Cottage mit Aussicht
sich das Haus überhaupt angesehen hatte, war Max gewesen und seine Bemerkung, dass seine Mutter hier in der Nähe lebe. Es war ihr als ein gutes Omen erschienen.
Anna blies die Kerze aus und ging dann vorsichtig rückwärts die Leiter hinunter, die ihr gegenwärtig als Treppe diente. Manchmal gestattete sie sich Tagträume, in denen sie seiner Mutter begegnete oder Max selbst, während er bei ihr zu Besuch war. Wenn sie diesem Traum nachhing, musste sie immer ein wenig kichern, auch wenn sie das eigentlich nicht wollte. Falls er ihr über den Weg lief, würde sie höchstwahrscheinlich Latzhosen und Sicherheitsstiefel tragen. Sie war zwar schon immer der Typ für Jeans und Pulli gewesen, doch jetzt trug sie praktische Sachen, die nur noch zweckmäßig waren und sonst gar nichts. Sie schwärmte schon sehr lange für ihn - seit Max als Gastdozent am College gewesen war -, und zwar immer noch mit gleicher Inbrunst.
Er war der heiße junge Architekt gewesen, der in seinem Unterricht auf sie eingegangen war und mit ihnen geredet hatte, und sie, Anna, war nur eine von vielen Studentinnen gewesen, die fleißig mitgeschrieben hatten. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass sie nicht die Einzige war, die sich in ihn verliebt hatte. Er war so dynamisch gewesen und so vital. Nicht wirklich gut aussehend, aber mit einer so starken Persönlichkeit gesegnet, dass sein Aussehen keine Rolle spielte. Allerdings hatte sie niemals mit irgendjemandem über ihn gesprochen, ihre Schwester eingeschlossen, Gott sei Dank. Sie hatte nicht herausfinden wollen, dass er sich durch den halben Kursus geschlafen, sie selbst aber übergangen hatte.
Dann, bei ihrem Abschlussball, hatte er sie ausgewählt und mit ihr getanzt. Es war ganz am Schluss des Balls gewesen, und Anna hatte aufbrechen müssen, weil sie sich mit einer Gruppe von Kommilitonen ein Minitaxi für den Heimweg hatte teilen wollen. Max hatte gerade genug Zeit, seine Telefonnummer auf ein Zigarettenpäckchen zu schreiben. »Rufen Sie mich an«, sagte er mit einem heiseren Flüstern.
Anna hatte die feste Absicht, sich bei ihm zu melden, obwohl der Gedanke erschreckender war, als die Abschlussprüfungen es gewesen waren, aber dann zog irgendein grässlicher Bazillus sie für Tage aus dem Verkehr. Am ersten Tag, an dem sie wieder gesund genug war, um das Bett zu verlassen, war sie eben auf dem Weg zur Apotheke, als sie ihn sah - mit einer Frau. Anna lief nach Hause und zerriss und verbrannte das Stück von dem Zigarettenpäckchen. Erst zwei Tage später, als die letzten Reste des Bazillus sich verzogen hatten und sie sich wieder etwas sicherer auf den Beinen fühlte, wurde ihr klar, welche unglaubliche Dummheit sie begangen hatte. Die Frau konnte nur eine Freundin gewesen sein: seine Schwester, eine Kollegin, irgendjemand. Seither bedauerte sie ihre Torheit.
Anna ging in den einzigen Raum des Hauses, in dem sich der Elektrokessel und der Toaster hatten anschließen lassen. Außerdem hing dort ein kleines Handwaschbecken, sodass das Ganze als Küche durchgehen konnte. Um die Forderungen der Bank, einer ehemaligen Bausparkasse, zu erfüllen, hatte Anna den leicht angerosteten Herd und die rissige Spüle behalten, bis sie eine Hypothek bekommen hatte. Zu ihrem Glück hatte sich der Schätzer der Bank das Haus wegen dessen Lage und der relativ geringen Höhe der von ihr benötigten Summe nicht mit eigenen Augen ansehen müssen. Sich das Geld zu sichern, war gewissermaßen ein Spaziergang für sie gewesen.
Natürlich erschien ihr die Hypothek keineswegs klein, sondern riesengroß, aber vom Standpunkt der Bausparkasse aus betrachtet, handelte es sich um eine ziemlich unbedeutende Summe.
Während sie sich eine Tasse Tee kochte und die letzte Milch verbrauchte, zwang sie sich, nicht länger an den Mann zu denken, den sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte, und rechnete sich aus, wie lange es dauern würde, bis Laura nicht mehr an sich halten konnte und mit ihrem handwerklich begabten Ehemann im Schlepptau über sie herfallen würde, um »ihr auf die Sprünge zu helfen«.
Anna liebte ihre Schwester sehr, und während ihres Zusammenlebens waren sie wunderbar zurechtgekommen. Aber seit Laura nicht länger da war, um ihre Dates zu überwachen, ihre Garderobe zu korrigieren und sie ganz allgemein zu bemuttern, wurde das Wort »tyrannisch« immer zutreffender. Wenn sie gewusst hätte, wo Anna ihre erste Nacht in ihrem ersten eigenen Zuhause - ihrem Investitionsprojekt, korrigierte sie
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