Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
PLATZ VOR DER JUNGFRAUENTREPPE , ORTSJAHR 1002 , STANDARDJAHR 1375
A cht Gesänge nach dem Mittagslied: Abenddämmerung. Auf dem Platz vor der Jungfrauentreppe versammelte sich eine Menge; Männer und Frauen in grellbunter Arbeitskleidung; hier und da flatterten die saphirblauen oder silbernen Roben des Zirkels.
Das letzte Echo des Achten Gesangs wurde von den glatten Wänden des Zirkelhauses zurückgeworfen, und über die Ansammlung von Menschen legte sich eine erwartungsvolle Stille.
In einer engen Passage, die von dem Platz abzweigte, regte sich eine schlanke Gestalt. Die junge Frau rückte die Kordel des Beutels zurecht, der von ihrer Schulter hing, doch ihre Blicke richteten sich auf die Treppe, auf der zwei Mitglieder des Innersten Zirkels standen. Die kleinere Person hob die Arme und bat um absolute Ruhe. Die Menge hielt den Atem an, während auf dem Platz ein Staubteufel wirbelnd zum Leben erwachte. Die Beobachterin in der Seitengasse erschauerte und presste sich dichter an die Mauer.
»Wir haben uns hier eingefunden«, rief die größere der beiden Personen, die sich auf der Treppe befanden, »um den Geist unserer Schwester, unserer Tochter und unserer Freundin der Großen Mutter anzuvertrauen. Denn am heutigen Tage ist die von uns gegangen, welche den Namen Moonhawk trägt.« Nun reckte der groß gewachsene Mann die Arme in die Höhe, derweil die Frau neben ihm die Hände senkte, um den zweiten Teil des Rituals zu intonieren.
»Trauert nicht, denn Moonhawk befindet sich nun in der Fürsorge der Einen, die Unser Aller Mutter ist; sie wird unsere Schwester, Tochter, Freundin unterweisen und sie auf ihren nächsten Aufenthalt in unserer Mitte vorbereiten. Freut euch und seid glücklich, dass Moonhawk die Gnade zuteil wurde, schon so früh an die Seite der Mutter gerufen zu werden.«
Die Menge hauchte ein mattes »Ollee«, und die kleine Hexe ergriff das Wort; in ihrer Stimme schwang der hypnotische Tonfall mit, der immer dann angeschlagen wurde, wenn ein starker Zauber im Spiel war.
»Sie ging heim zur Mutter, um zu lernen und zu reifen; Moonhawk weilt nicht länger unter uns. Eine volle Lebensspanne lang wird sie zu Füßen der Mutter sitzen, sich in deren Glanz sonnen und von uns nicht mehr gesehen werden. Während der Zeit, in der das Rad sich einmal im Kreise dreht, wird niemand Moonhawk zu Angesicht bekommen. Sie ist fort. So möge es sein.«
»So möge es sein«, wiederholte der größere Sprecher.
»So möge es sein«, rief die Menge in voller Lautstärke, die sich nun auf vertrautem Terrain fühlte.
Die schlanke Beobachterin stimmte nicht in den Chor mit ein, zog sich ein wenig tiefer in den Durchlass zurück. Dort fand sie der Staubteufel und tobte sich flüchtig in ihren frisch getrimmten Haaren aus, ehe er sich auf die Suche nach anderen Vergnügungen machte.
Eine groß gewachsene Frau am Rand der Menge vollführte eine schnelle, hastig abgebrochene Bewegung. Die Beobachterin beugte sich nach vorn, und ihre Lippen formten ein Wort: Mutter. Dann richtete sie sich wieder auf, ohne diese beiden Silben auszusprechen.
Es wäre sinnlos gewesen. Moonhawk war tot, auf Anordnung der Frau, die während dieses Radumlaufs Moonhawks Mutter war. Der Scheiterhaufen, auf dem ihre Besitztümer verbrannt wurden, war zum Mittagslied angezündet worden, während die Mutter mit eisiger Miene und trockenen Auges zuschaute. Die Beobachterin hatte an diesem Spektakel ebenfalls teilgenommen. Sie hatte geweint – vielleicht so heftig, dass es auch für die Mutter gereicht hatte. Nun jedoch traten ihr keine Tränen in die Augen.
In der Tasche, die sie über der Schulter trug, befanden sich die Habseligkeiten, die sie aus ihrer Zelle im Mädchenflügel des Zirkelhauses hatte retten können. Die Kleider, die sie nun am Leib hatte, stammten aus einem Gebrauchtwarenladen in der Nähe des Flusses: ein dunkles, weiches Hemd mit viel zu langen Ärmeln, an dessen Stoff sich die Brustwarzen wund scheuerten, die es nicht gewohnt waren, bedeckt zu werden; hautenge Leggings, gleichfalls in einem dunklen Ton gehalten, mit Ausnahme eines hellen Flecks am rechten Knie; dazu Stiefel von irgendeiner Außenwelt mit abgelaufenen Hacken. Die Ohrringe waren ihr Eigentum, vor Jahren angebracht von alten Händen, die voller Stolz auf die neue Besitzerin dieser Ohrgehänge zitterten. Die sieben silbernen Armreifen in dem Beutel gehörten ihr nicht. In der Ärmeltasche des Hemdes steckte eine einzige Münze: ein terranischer
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