Cotton Reloaded - Folge 1 - Der Beginn
konnte er nur wenig erkennen. Parkende Autos, ein chassidischer Rabbi, der seine Kinder nach Hause brachte, seine Vermieterin mit ihrem Hund, Arbeiter der Stadtverwaltung, die einen Hydranten auswechselten und dabei die Straße unter Wasser setzten, zur Freude einiger Kinder. Wenig Verkehr, aber der würde in der nächsten Stunde zunehmen, wenn die Pendler aus Manhattan zurückkehrten. Nichts Verdächtiges.
Bis auf den dunkelblauen Hyundai Tucson, der gegenüber vom Haus parkte. Selbst durch die Bäume konnte Cotton den Fahrer noch erkennen. Er hielt einen Kaffeebecher in der Hand, an dem er in regelmäßigen Abständen nippte. Nichts Ungewöhnliches. Hätte der Mann nicht während der nächsten halben Stunde, die Cotton ihn beobachtete, so oft an seinem Kaffee genippt, dass der Becher viermal leer sein musste. Außerdem griff er jedes Mal zu seinem Handy, wenn ein Passant vorbeikam, und legte es anschließend wieder weg. Entweder war der Typ der blutigste aller Anfänger, oder Decker wollte ihn ärgern.
Maggies Mörder war der Typ jedenfalls nicht. Aber wie eine große Hilfe, falls der Killer plötzlich mit dem Arm voll C4-Sprengstoff hier aufkreuzte, sah er auch nicht aus.
Cotton wurde klar, dass er inzwischen nichts mehr in der Hand hatte, womit er Decker beeindrucken und sich für das G-Team empfehlen konnte. Im Gegenteil. Er saß in der Scheiße, aber so richtig. Und ihm wurde klar, dass mit dem Wissen um die Existenz des G-Teams jeder weitere Tag mit Joe Brandenburg die Hölle sein würde.
Cotton verließ die Wohnung und ging zum Hyundai.
»Bist du so blöd, oder soll mir das was sagen?«, fragte er den Mann am Steuer.
»Was?«, erwiderte der FBI-Mann irritiert. »Wer sind Sie?«
Cotton seufzte. »Ruf Philippa Decker an. Sie soll vorbeikommen. Ich muss sie sprechen.«
Er wartete die Reaktion des Mannes gar nicht erst ab und kehrte ins Haus zurück. Er war nicht ratsam, allzu lange ungeschützt auf der Straße herumzustehen. Nach zwei Aspirin und einem Bier fühlte er sich immerhin in der Lage, sein Apartment aufzuräumen. Er erwartete ohnehin nicht, dass Decker auf Kommando sofort bei ihm erscheinen würde. Natürlich würde sie ihn ein bisschen warten lassen. Natürlich. Upper-Westside-Tussis ließen einen immer warten, das lernten sie ebenso von ihren Müttern wie den Geiz und die Härte.
Cotton fand, er brauche noch zwei Aspirin und ein weiteres Bier.
Es war schon dunkel, als er schließlich das typische Rasseln eines Sechszylinder-Boxermotors hörte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass Decker nicht irgendeinen Porsche fuhr, sondern einen Carrera 911 GT3 RS. 500 PS. Weiß.
Die Kopfschmerzen kamen zurück.
*
»Gefährliche Gegend, in der Sie wohnen«, sagte Decker anstatt eines Grußes, legte ihre Handtasche lässig auf dem nächstbesten Stuhl ab und betrat Cottons Wohnung so selbstverständlich, als gehöre sie ihr. Auch das, erinnerte sich Cotton, war ein natürliches Upper-Westside-Verhalten. Und meist gehörte diesen Leuten ja tatsächlich alles.
»Wie oft in der Woche werden hier Computerläden in die Luft gejagt?«
Decker sah aus, als wären sie zu einem Date verabredet. Cremefarbenes Kostüm vom gleichen Schnitt wie zuvor, darunter einen weißen Kaschmirpullover, der zwar nicht mehr so tief ausgeschnitten war, aber ihre Figur dafür umso mehr betonte. Sie und ihr Duft erfüllten Cottons Apartment mit einer besitzergreifenden Präsenz, die ihn zugleich alarmierte und an die Wand drückte. Dabei war ihm klar, was das Ganze sollte. Es war, als würde sie ihn auf diese Weise die ganze Zeit »Jerry« nennen.
Sie blickte kurz in sein Schlafzimmer und ging dann in die Küche. »Sie haben ja aufgeräumt.«
»Was trinken?«, fragte Cotton gereizt. »Ich könnte Ihnen ein leckeres Wasser aus dem Hahn anbieten. Hält schlank.«
Decker öffnete den Kühlschrank. »Ich nehme das letzte Bier, okay?«
Sie kramte in einer Schublade nach dem Öffner und wollte ihre Besichtigungstour dann mit dem Bier fortsetzen, doch Cotton versperrte ihr den Weg. Das schien sie zu amüsieren, wie überhaupt alles. Sie ging ihm auf die Nerven.
»Wie kann man sich mit dem Gehalt eines Cops so ein Apartment in Williamsburg leisten?«
»Alter Adel«, sagte Cotton. »Ich mache den Job nur, um nicht ganz zu verblöden.«
Sie blickte ihn an. »Falsche Entscheidung.« Und ihr Kaschmirpullover setzte noch ein gehauchtes »Jerry« dahinter. Cotton reichte es jetzt.
»Ihre kleine Frühstück-bei-Tiffany’s-Nummer
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