Cotton Reloaded - Folge 1: Der Beginn
wandte Cotton sich ab und verließ das Gebäude. Niemand schien mehr Interesse für ihn aufzubringen als für ein harmloses Insekt, das sich zufällig hierher verirrt hatte und beizeiten wieder nach draußen finden würde – oder unbeachtet vertrocknete.
Cotton fand, dass er ein wenig Aufmunterung vertragen konnte. Außerdem schien es ihm im Moment nicht ratsam, nach Hause zu fahren, falls der Killer sein Apartment überwachte. Also fuhr er zu Raschid und seiner Familie.
Raschid. Der ihn vor elf Jahren, am schicksalhaften 11. September 2001, beklaut und ihm damit das Leben gerettet hatte. Und viele Male danach. Raschid hatte ihm alles beigebracht, was man auf den Straßen von Brooklyn und Queens wissen und können musste, um durchzukommen.
Raschid hatte ihn nach dem Anschlag damals in der Zeitung erkannt und war im Krankenhaus aufgetaucht. Drei Tage lang hatte er seinen Platz an der Tür des Krankenzimmers nicht verlassen. Als die Ärzte Cotton schließlich entließen, hatte er zwar keine Familie mehr, dafür einen Freund. Beide hatten einen Freund gebraucht.
Cotton hatte längst zu zählen aufgehört, wie oft er Raschid aus irgendeinem Schlamassel hatte befreien müssen. Erst seit Raschid seine Dina geheiratet hatte und Vater von Zwillingen geworden war, ließ er es ruhiger angehen. Nach acht Jahren in der Army arbeitete er inzwischen beim Sicherheitsdienst der Masjid Al Abidin Moschee in Queens. Cotton hatte seinen Freund noch nie zufriedener erlebt.
»J.C.!« Die Zwillinge flogen ihm kreischend in die Arme und ließen nicht locker, bis Cotton den Mädchen die Packung Twinkies überließ, die er mitgebracht hatte.
»Du weißt genau, dass sie dieses Zeug nicht essen sollen!«, tadelte ihn Raschid.
»Hey, das ist immer noch Amerika, Bruder!«, verteidigte Cotton sich feixend und gab Raschids Frau Dina zwei Küsse auf die Wange.
»Schön, dich mal wieder zu sehen, J.C.«, sagte sie. »Du machst dich rar in letzter Zeit.«
»Hab viel um die Ohren.«
»Wir sind ihm nicht mehr gut genug«, scherzte Raschid, aber Cotton vernahm dennoch eine Spur Bitterkeit in seinem Tonfall. »Also, was gibt’s, Bruder?«
»Kann ich für ein paar Tage bei euch aufs Sofa?«
»Jaaa!«, kreischten die Zwillinge.
Raschid fragte nicht mal nach dem Grund. »Was kann ich sonst noch für dich tun?«
»Ein Kaffee wär super.«
Dina setzte arabischen Kaffee mit zerstoßenen Kardamomkapseln auf. Währenddessen erklärte Cotton seinem Freund in knappen Worten, was passiert war. Raschid hörte konzentriert zu, ohne ihn zu unterbrechen, und ließ sich die Fotos zeigen. Dann reichte er Cotton das Handy zurück wie etwas zutiefst Verdorbenes, Schmutziges.
»Im Irak habe ich genug von dieser Scheiße gesehen, Bruder. Verstümmelte Leichen, die mich heute noch in Albträumen heimsuchen. Manchmal hatten irgendwelche Verrückten die Toten sogar für Fotos zurechtgelegt.« Er blickte auf die Uhr und erhob sich. »Ich muss zum Dienst. Dina gibt dir einen Schlüssel.«
Cotton hielt ihn fest. »Was hast du da gerade gesagt?«
»Dass ich zum Dienst muss.«
»Nein, davor.«
»Dass ich im Irak genug verstümmelte Leichen gesehen habe. Und dass sie manchmal von irgendwelchen Geisteskranken zurechtgelegt worden waren wie Jagdtrophäen.«
Der Song! Plötzlich fiel er Cotton wieder ein. Es war Jahre her, bei einer der seltenen Kinobesuche mit seinen Eltern. Seine Mutter, die den Song im Auto auf dem Nachhauseweg die ganze Zeit aufgekratzt nachgesungen hatte …
Cotton sprang wie elektrisiert auf und stürmte aus der Wohnung, verfolgt von den fassungslosen Blicken Raschids und seiner Familie.
Von unterwegs rief er Decker an.
»Was gibt’s, Cotton?« Ihre Stimme klang hohl durch die Freisprechanlage ihres Porsche.
»Ich hab vielleicht was.«
»Schießen Sie los.«
»Nein, nicht hier. In einer halben Stunde in Ihrem Konferenzraum.«
*
»Unser Mann ist Weißer, amerikanischer Staatsbürger, Mittelschicht, Collegeabschluss, wahrscheinlich in Literatur, Anfang dreißig, Irak-Veteran, möglicherweise versehrt«, sagte Cotton und tippte auf die ausgebreiteten Tatortfotos auf dem Tisch.
»Unmöglich, Cotton. Meine Ermittlungen ergeben ein ganz anderes Bild.«
»Wollen Sie mir nun zuhören oder nicht?«
»Sie haben was von einem Song gesagt«, seufzte Decker.
»Fame«, sagte Cotton. »Der Tanzfilm aus den Achtzigern, erinnern Sie sich?«
»Dunkel.«
»Da gab es diesen Song …« Er sang ihr die erste Strophe kurzerhand vor. » I sing the body
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