CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
eher … stell dir einfach vor, man könnte alle Radio-, Fernseh- und Telefonsignale sehen, der Himmel wäre voll davon, ein Schneesturm aus Geräuschen und Bildern, die durch die Luft schwirren. Etwas Ähnliches läuft in mir drin ab – eine Botschaft nach der anderen kommt angerauscht, sie schwirren hin und her, immerzu, ohne Pause. Gerade eben riecht es unten in der Küche nach Schinken, im Mund habe ich noch den Nachgeschmack der Zahnpasta, von draußen höre ich das Piepen eines rückwärtsfahrenden Lasters, und weil ich irgendwie komisch am Computer gesessen habe, sind meine Oberschenkel eingeschlafen und kribbeln, und gleichzeitig erscheint wie von Zauberhand diese Mail auf dem Bildschirm. Genial!
Kapierst du, was ich meine?
David ist gestern wieder vorbeigekommen. Hat mich matt gesetzt. Schon wieder.
»Dir ist klar, dass ich dich absichtlich gewinnen lasse, oder?«, habe ich gesagt.
»Echt? Ich dachte, du spielst einfach kacke.«
Es liegt an der Konzentration. Dass mir mittendrin nicht mehr einfällt, dass ich den Läufer diagonal übers Spielfeld bewegen muss, macht es auch nicht besser! Aber insgesamt hilft mir das Schachspielen sehr. Der Physiotyp schwört darauf. Er meint, es ist ein hervorragendes Training fürs Gehirn, genau wie Sudoku, Kreuzworträtsel und so ’n Zeugs. Ich kann noch nicht lange am Stück lesen, weil ich dann Kopfweh kriege und zu schielen anfange, aber das wird schon. Das Klarinettespielen auch. Heute Vormittag habe ich zwanzig Minuten geübt und bin noch nicht zufrieden mit meiner Grifftechnik und dem Ansatz, aber die Melodie war schon zu erkennen. Einigermaßen jedenfalls.
Viel wichtiger ist, dass ich die Noten
gehört
habe. Ich habe die Löcher mit den Fingerspitzen
gespürt
und das Rohrblatt
geschmeckt.
Und dabei sind die ganze Zeit diese kleinen Gespräche abgelaufen.
Ich habe David nicht erzählt, was wirklich passiert ist. Ich weiß, ich habe gesagt, ich mach’s, aber ich schaff’s einfach nicht, und ich weiß nicht, ob ich es irgendwann hinkriege.
Du hattest recht. Manchmal überfordert einen die Wahrheit einfach.
Was noch?
Ach ja, gestern Abend sind Sam und ich zum ersten Mal aneinandergerasselt. Ich wollte mir was im Fernsehen anschauen, aber er hat auf der Spielkonsole gedaddelt und wollte nicht aufhören. Mum hat meine Partei ergriffen, worauf Sam sich aufgespult und gesagt hat, dass ich in letzter Zeit immer recht bekomme. Es wäre ihm viel lieber, wenn ich noch im Krankenhaus läge, und er hätte die Schnauze voll, einen Spasti als Bruder zu haben.
Ich dachte schon, Dad reißt ihm den Kopf ab.
»Wenn du noch ein einziges Mal …«
Und so weiter. Vielleicht würde es mir an Sams Stelle genauso gehen. Fünf Wochen muss er jetzt schon mitansehen, was seine Eltern für einen Aufstand um den verlorenen Sohn machen. Und dann noch das halbe Jahr davor, das Mum und Dad in einer Art Zombie-Zwischenland namens AlexAlexAlex verbracht haben. Da kann man sich als Bruder ja nur vernachlässigt fühlen.
Vielleicht hat der Streit auch sein Gutes. Wie wenn man einen entzündeten Pickel aufsticht.
Denn auf einmal waren wir irgendwie wieder eine normale Familie, weil sich keiner mehr so benommen hat, als ob er in einer doofen Fernseh-Reality-Show mitspielt, wo wir eine Million Pfund gewinnen, wenn wir bis zur letzten Folge durchhalten, ohne die Beherrschung zu verlieren und einander anzubrüllen oder sonst wie fies zueinander zu sein.
Sam wird nächsten Dienstag in Crokeham Hill eingeschult. Die Straße, auf der ich heute meinen Spaziergang mache, ist demnächst jeden Morgen sein Schulweg.
Meiner nicht. Noch nicht. Wahrscheinlich ab Januar, wenn ich »weiterhin so erfreuliche Fortschritte mache«.
Hab ich dir schon erzählt, dass ich eine Hauslehrerin bekomme? Damit ich nicht so viel nachholen muss. Sie kommt fünf Vormittage die Woche her, nachmittags habe ich dann Physio- und Ergotherapie. Demnächst geht’s auch ins Schwimmbad – am Anfang darf ich natürlich noch nicht richtig schwimmen, aber wir arbeiten darauf hin.
Ich kann’s echt kaum erwarten. Ich will so viele Sachen machen, und zwar alle auf einmal.
Carpe diem,
stimmt’s?
Ich fange hundertpro mit dem Schwimmen an.
Und ich melde mich bei der Theater-AG an.
Und ich habe gehört, dass die
Killers
angeblich einen Klarinettisten suchen
Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hat mich ein Reporter auf der Pressekonferenz gefragt, wie es ist, wenn einem acht Monate seines Lebens fehlen. (Vielleicht hast
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