CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
Zimmer in blaugrünes Dämmerlicht. Unterwasserlicht.
In diesem Halbdunkel glaubte Alex zuerst, das Bett sei leer. Aber als sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte er den Umriss einer Gestalt unter dem Bettlaken. Wie eine Schaufensterpuppe. Als wollte man jemanden täuschen, so tun, als liege man im Bett, dabei war man eigentlich ganz woanders.
Dann … der Kopf auf dem Kissen.
Alex ging zum Bett, blieb daneben stehen und zwangsich, das Gesicht zu betrachten.
Sein
Gesicht. Wächsern, bleich. Obwohl er wusste, dass der Junge –
Alex
– lebte, kam es ihm vor, als betrachtete er eine Leiche. Als sähe er sich selbst als Toten. Er war heilfroh, dass wenigstens die Augen geschlossen waren. Hätte er in seine eigenen starren Augen blicken müssen … das wäre echt zu viel gewesen.
Im rechten Nasenloch verschwand ein Schlauch für die Flüssignahrung, die den Bewusstlosen am Leben hielt. Das war aber auch die einzige sichtbare medizinische Apparatur. Wenn Alex dem Patienten das Ohr auf die Brust legte, würde er das Herz gleichmäßig schlagen hören, als wäre alles in bester Ordnung. Auch die Lungen verrichteten ihren Dienst einwandfrei. Der Atem ging zwar flach, aber der Brustkorb hob und senkte sich stetig. Man hörte, dass die Luft durch die leicht geöffneten Lippen eingeatmet und auch wieder ausgestoßen wurde. In den vielen Stunden am PC, als er über die Seele und den Verstand nachgelesen hatte, war Alex auch über den Ursprung des Wortes »Psyche« gestolpert – die Übersetzung des griechischen Ausdrucks für »Leben«, »Geist« oder »Bewusstsein«, der wiederum von einem Verb herstammte, das so viel wie »pusten« bedeutete. Für die alten Griechen war die Psyche oder Seele der
Lebenshauch,
der ein Wesen erst zum Menschen machte.
Der Lebensatem.
Dem Alex-Körper auf dem Bett mochten zwar die zugehörige Psyche und das Bewusstsein fehlen, doch er atmete und atmete und atmete.
Aber was sollten der Fernseher und die Musikanlage? Der Patient saß ja wohl kaum im Bett und schaute die
Simpsons
oder schaltete per Fernbedienung zum nächsten C D-Titel . Wahrscheinlich waren die Geräte für die Besucher gedacht. Für Mum und Dad. Alex stellte sich vor, wie seine Eltern hier drinnen Fernsehen schauten oder Musik hörten. Es musste doch furchtbar langweilig sein, darauf zu warten, dass jemand starb. Oder wieder aufwachte. Vielleicht spielten sie ja immer wieder
Hot Fuss
oder
Sam’s Town
, weil sie hofften, dass die Songs bis in das heruntergefahrene Gehirn ihres Sohnes drangen und ihn aus seinem Wachkoma hervorlockten.
Konnte
der Bewusstlose überhaupt etwas hören? Wenn Alex ihn ansprach, sozusagen ein Selbstgespräch führte, würde dann der Klang der Stimme, oder sogar die Worte, in seinem Unterbewusstsein ankommen?
Andererseits wäre es ja nicht »Alex«, der etwas hörte. Es wäre Flip. Das hier war zwar Alex’ Kopf mit Alex’ Gehirn, aber innen drin befand sich Flips ausgeschaltetes Bewusstsein.
Alex betrachtete sich genauer. Seine Haut war noch blasser als sonst, das Gesicht schmaler und eingefallen, auch die Haare waren länger. Nicht viel. Jemand – seine Mutter? – schnitt sie offenbar nach. Alex stellte sich das vor. Als er klein war, hatte ihm seine Mutter immer die Haare geschnitten, weil sie das Geld für den Friseur sparen wollte. Sam schnitt sie auch immer noch die Haare. Die Augenlider des bewusstlosen Alex-Körpers sahen so zart, fast durchsichtig aus, als hätte jemandSeidenpapier über die Augäpfel gelegt. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie schienen leicht zu zucken.
Sie zuckten tatsächlich. Träumte Flip? Hatte er Albträume, wie Alex?
Spürte Flip die Anwesenheit seines
eigenen
Körpers und die Anwesenheit von Alex’ Seele? Räumliche Nähe war keine Voraussetzung für eine psychische Evakuierung (Alex hatte es von London nach Litchbury verschlagen, Rob von England nach Neuseeland), trotzdem stellte sich Alex unwillkürlich vor, dass eine Seele irgendwie auf die direkte Nähe ihres »Zwillings« reagieren müsste. Aber wenn Flips Seele eine Reaktion zeigte, bekam Alex sie jedenfalls nicht mit.
Er nahm die rechte Hand des Liegenden in seine linke. Die Haut war warm. Das überraschte ihn. Ihm fielen die langen Fingernägel auf. Nicht abgekaut. Sie sahen irgendwie künstlich aus, denn normalerweise waren sie abgeknabbert. Mit der freien Hand schob er dem Bewusstlosen den Pony aus der Stirn. Die Haare fühlten sich ein bisschen
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