Crazy Moon
Ankunft in Charlotte wog meine Mutter fünfundsiebzig Kilo weniger und ich nahm in ihrem Windschatten zwanzig Kilo ab. Katharine |11| verschwand – mitsamt Schwabbelhüften, Doppelkinn, Doughnuts und Kakao zum Frühstück – und Kiki wurde geboren.
Sie liebte ihren neuen, durchtrainierten Körper, aber für mich war das Ganze nicht so einfach. Obwohl ich mein Leben lang wegen meiner Fettschichten gehänselt worden war, hatten sie auch etwas Beruhigendes an sich gehabt, denn zur Not konnte ich mich an ihnen festhalten, an jenen Speckfalten um Taille und Hüften. Mein Übergewicht glich einem Kraftfeld, das mich beschützte, wenn ich wieder einmal an eine andere Schule verpflanzt worden war. Und an den endlosen Nachmittagen und Abenden, die ich allein verbringen musste, weil meine Mutter arbeitete, hatte ich mich, weil sonst niemand da war, selbst getröstet, indem ich alles Essbare in Reichweite in mich hineinstopfte. Doch jetzt wog ich zwanzig Kilo weniger und hatte nichts mehr, wohinter ich mich verstecken konnte. Manchmal ertappte ich mich nachts im Bett dabei, wie ich mich in die Hüften zwickte, bevor mir wieder einfiel, dass da gar nichts mehr war, an dem ich mich hätte festhalten können.
Mein Körper hatte sich verändert; ganze Teile waren verschwunden, als hätte ich sie Stück für Stück fortgezaubert. Ich hatte Wangenknochen, Muskeln, einen flachen Bauch, reine Haut – genau wie meine Mutter. Trotzdem fehlte mir etwas, im Gegensatz zu ihr. Muskeln konnte ich aufbauen, Selbstvertrauen nicht. Dafür gab es keine Übungen.
Trotzdem trainierte ich weiter: Aerobics, Joggen, Gewichtheben. Das Echo der Worte, die ich gehört hatte, seit ich denken konnte, trieb mich an.
Fettarsch!
Ich zwang mich zu zehn weiteren schwungvollen |12| Schrittkombinationen, obwohl meine Beine längst wie Feuer brannten.
Speckie!
Mit aller Kraft stemmte ich Hanteln, wiederholte die Übungen immer wieder, selbst wenn der Schmerz mich beinahe umbrachte.
Schweinchen Dick!
Ich lief noch eine Meile und noch eine, bis die Stimmen endlich hinter mir zurückblieben.
Aus meiner Mutter und mir waren neue Menschen geworden; wir sahen nicht einmal mehr den Bildern in unserem Fotoalbum ähnlich. Manchmal stellte ich mir vor, dass unsere früheren fetten Ichs nach wie vor wie Gespenster kreuz und quer durchs Land fuhren und Chips in sich hineinstopften – eine total schräge Vorstellung.
Aber die Aerobic-Klassen meiner Mutter bei Lady Fitness hatten immer mehr Zulauf. Hüfte an Hüfte drängten die Frauen zu ihr hin, um ihre Botschaft zu empfangen. Der regionale Fernsehsender engagierte sie für eine Live-Show jeden Morgen mit dem Titel »Wach auf und tu was für dich«. Ich saß vor der Schule am Küchentisch, aß Sportler-Müsli mit Nüssen, Trauben, Magerjoghurt und schaute mir meine Mutter an – im Fernsehen.
»Ich heiße Kiki Sparks«, sagte sie zu Beginn jeder Sendung, während im Hintergrund die Musik allmählich lauter gedreht wurde. »Seid ihr bereit etwas für euch zu tun?«
Und man hatte das Gefühl, man könne sie geradezu hören, die Hunderte – ja Tausende – von Frauen in der ganzen Stadt, die begeistert »Ja!« schrien.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Sendung im ganzen Bundesstaat und schließlich landesweit ausgestrahlt wurde. Die Frau, die sie ursprünglich bei Lady Fitness angestellt hatte, nahm eine Hypothek auf ihr Haus auf, um |13| ein professionelles Video zu produzieren, mit dem Titel »Fly Kiki«. Nachdem meine Mutter bei einem Teleshopping-Sender aufgetreten und zusammen mit der Moderatorin der Show fünf Minuten Work-out zum »superschnellen Kalorienverbrennen« durchgezogen hatte, verkaufte sich dieses Video millionenfach. Der Rest ist fettfreie Geschichte.
Inzwischen wohnen wir in einem Haus mit Swimmingpool und haben eine Köchin, die alle Hände voll damit zu tun hat, kalorienarme Mahlzeiten zu produzieren. Ich habe ein eigenes Badezimmer und einen Fernseher. Der einzige Nachteil besteht darin, dass meine Mutter irre beschäftigt ist den Kiki-Wahnsinn im ganzen Land und überall auf der Welt zu verbreiten. Aber wenn ich sie zu sehr vermisse, brauche ich bloß durch die Kanäle zu zappen und Bingo! – sehe ich sie in ihrer eigenen Werbesendung: »Mit Kiki kannst auch du es schaffen!«
Trotzdem denke ich manchmal noch daran, wie wir in unserem alten Kombi durch die Lande schaukelten. Ich lag mit dem Kopf in ihrem Schoß und döste vor mich hin, während meine Mutter laut die Schlager aus
Weitere Kostenlose Bücher