Crescendo
mehr brauchen. Sogar hier im Cottage fühlte er sich mittlerweile eingesperrt. Er würde es genauso leicht aufgeben können wie damals sein Elternhaus.
Als die Nachbarn irgendwann fragten, wann denn seine Eltern von ihrer spontanen Weltreise zurückkämen, mit der er ihr Verschwinden erklärt hatte, war es Zeit, sich zu verabschieden. Er hatte das Haus mit dem Briefpapier und der gefälschten Unterschrift seines Vaters einem Makler in Telford angeboten. Als jemand vom Maklerbüro kam, um sich das Haus anzusehen und die Sache perfekt zu machen, erklärte er ihm, seine Eltern seien unterwegs, und schickte dann den unterschriebenen Vertrag und die Bankverbindung per Post zu.
Wenn einer vom Maklerbüro anrief, imitierte Wayne die Stimme seines Vaters, was er perfekt eingeübt hatte. Danach waren sie zusammen in das Cottage gezogen. Der erste Winter war ruhig verlaufen. Das Feuer im Kamin schützte gegen die Eiseskälte, und sie lebten sparsam von dem Geld, das sie vom Konto seines Vaters abhoben. Sämtliche Daueraufträge waren gekündigt worden, und die Makler zahlten die Raten. Er hatte an alles gedacht.
Als ihnen dann doch allmählich das Geld ausging, nahm Wayne ganz in der Nähe einen Job in der Computerabteilung einer Firma an. Er war tüchtig, und man bot ihm eine Festanstellung an. Es war eine langweilige Arbeit, aber gut bezahlt, und er besuchte Abendkurse, um sich zu qualifizieren. Nach einem Jahr wurde er befördert und verdiente richtig Geld.
Eine Zeitlang hatten sie gut von Waynes Gehalt leben können.
Schließlich waren seine Vergnügungen, mal abgesehen von den Videos, alle kostenlos, doch dann hatte er die Freizeitdrogen entdeckt, einfaches Zeug, doch es steigerte seine euphorischen Stimmungen und machte den Depressionen ein Ende. Geld wurde zum Problem. Klauen wäre leicht gewesen, aber er wollte das Risiko nicht eingehen, deshalb kopierte er Waynes Abschlusszeugnis und suchte sich einen Job. Damals konnte noch jeder einen Job finden, der halbwegs was vom Programmieren verstand.
Mit Hilfe von kreativ aufgebesserten Lebensläufen fingen sie dann bei einer Firma in Telford an, die Computerspiele entwickelte. Er spezialisierte sich auf Computersicherheit und Wayne auf Entwicklung. Das war die schönste Zeit gewesen. Er und Wayne waren unverdrossen ihren gemeinsamen Interessen nachgegangen und mit jedem Experiment besser geworden. So hätte das Leben weitergehen können, wenn sie nicht wegen Waynes Dummheit rausgeflogen wären. Von da an war es mit Wayne bergab gegangen, das war ihm jetzt klar.
Sie hatten mit den Prüfungen angefangen, um ihrem Leben wieder ein Ziel zu geben. Er überlegte sich Aufgaben für Wayne: zum Beispiel einen Ort, eine Frau, die eine bestimmte Farbe trug, eine Tageszeit, und Wayne musste die Aufgaben erfüllen. Manchmal lief es auch umgekehrt, und Wayne testete ihn, aber seine Aufgaben waren immer zu leicht. Er war Wayne in jeder Hinsicht überlegen: Technik, Risikobereitschaft und Intelligenz.
Bei dem Gedanken fiel ihm erneut seine noch offene Rechnung in Telford ein. Es war ein Geniestreich gewesen, dem Polizisten zu folgen. Natürlich hatte er die Adresse des Taxi-Mädchens schon im Telefonbuch nachgeschlagen, aber es hatte so eine süße Ironie, sich von einem Bullen den Weg zeigen zu lassen.
Er fing an, das Haus auszuräumen, arbeitete sich von oben nach unten durch. Er würde es verkaufen; das Geld konnte er gut gebrauchen, und er hatte die Besitzurkunde. Er würde sich vor seiner Abreise einen Notar suchen, der die Sache erledigen sollte. Es war schon nach zwei Uhr morgens, aber er war nicht müde. Schlaf war weniger eine Notwendigkeit als ein Luxus. Mit Hilfe von ein paar Pillen kam er wochenlang mit nur drei bis vier Stunden pro Nacht aus und fühlte sich morgens frisch. Um vier Uhr hatte er die Sachen ausgesucht, die er mitnehmen würde, und sie in die Satteltaschen seines Motorrads gepackt. Alles andere brannte im Kamin oder steckte in einem Müllsack gleich neben der Hintertür.
Sein Laptop war noch immer mit der Telefonbuchse verbunden. Er wollte ihn gerade wegpacken, als er wieder an die Polizistin dachte. Er musste sie finden, so mühselig das auch war. Erst wenn er sie getötet hatte, konnte er das Land erhobenen Hauptes verlassen. Sie hatte ihm ernsthaft Unannehmlichkeiten bereitet und musste sterben, damit er sich wieder frei fühlen konnte.
Er zwang sich zur Konzentration und schaltete den PC ein, als das erste Tageslicht auf den Rand des Sees fiel.
Weitere Kostenlose Bücher