Crescendo
Vielleicht lag es an der Klarheit des frühen Morgens oder an der Frische seines Gehirns, aber in diesem Augenblick begriff er mit einem Schlag, dass er mit dem Durchforsten der Dateien seine Zeit vertan hatte. Das war gar nicht nötig. Das Internetcafé, in dem sie gewesen war, gehörte mit Sicherheit einem Computerfreak: Es hatte einen eigenen Server, was höchst ungewöhnlich war und bedeutete, dass das Café einen registrierten Standort und eine eigene IP-Adresse hatte, die er herausfinden konnte. Die zwei Jahre, die er im Bereich IT-Sicherheit gearbeitet hatte, waren also doch nicht vergeblich gewesen. Es war zwar schon über ein Jahr her, dass er derlei Suchaktionen gemacht hatte, aber so etwas verlernte man nicht.
Er dehnte die Finger, dass die Knöchel knackten, und beugte sich dann über die Tastatur. Die Jagd war eröffnet. Er würde den Standort des Internetcafés ausfindig machen, die Sache in Telford erledigen und dann die Polizistin aufspüren. Ein Sonnenstrahl drang durch das offene Fenster, und er wusste plötzlich genau, dass es ein ganz besonderer Tag werden würde.
Kapitel sechsundzwanzig
Nightingale erwachte spät, blieb aber noch liegen und starrte auf die Schatten, die das Sonnenlicht auf die Schlafzimmerwände warf. Körperlich fühlte sie sich hervorragend, aber sie war ruhelos. Nach dem Aufstehen ging sie mit einer Tasse schwarzem Kaffee in den Garten und sah, dass zwischen ihren Stangenbohnen schon wieder Unkraut wucherte. Über zwei Dutzend Schnecken waren im Vollrausch in den mit Bier gefüllten Fallen ertrunken, die sie aufgestellt hatte, und Vögel hatten am Salbei herumgepickt. Sie machte sich daran, die Nebengebäude der Farm zu erkunden, wie jemand, der am Strand das Treibgut durchsucht, um sich die Zeit zu vertreiben. In der ehemaligen Käserei waren alte Äpfel zu einer eingetrockneten braunen Masse verrottet. Der süße Mostgeruch, der unter dem Staub verblieben war, hatte Hunderte von Schwalbenschwanz-Schmetterlingen angelockt, die nun wie ein bunter Teppich tot auf dem verdorrten Obst lagen. Neben den Schmetterlingen entdeckte Nightingale einen alten Koffer, den sie ins Freie schleppte.
Es war eigentlich eine Reisetruhe, in der ihre Tante ausrangierte Kleidung aufbewahrt hatte. Sie öffnete sie und verteilte den Inhalt auf eine Decke. Ganz unten, unter vergilbten Seidenunterröcken, fand sie eine lederbezogene Schatulle voller Fotos und Bündel von Briefen, die mit Bändern zusammengebunden waren. Nach kurzen Bedenken siegte die Neugier, und sie machte sich an die Durchsicht.
Das erste Foto zeigte drei Personen beim Picknick – ihre Tante, ihren Vater und Lulu. Auf dem nächsten, auf dessen Rückseite »Weihnachten« stand, waren ihre Tante und ihr Vater zu sehen, der aus vollem Halse lachte. Nightingale blinzelte fest, bevor sie das Foto schnell mit einem anderen bedeckte, das jedem Anflug von Tränen ein Ende bereitete.
Auf dem Schwarzweißbild küsste ihr Vater Lulu mitten auf den Mund. Dem Datum auf der Rückseite nach zu schließen, war es dasselbe Jahr, in dem ihre Eltern geheiratet hatten. Auf einem anderen Foto saß Lulu gegen ihn gelehnt, ihr Kopf ruhte entspannt unter seinem Kinn, und sie blickte ernst, aber nicht traurig. Die Hände ihres Vaters lagen auf Lulus gewölbtem Bauch. Kein Zweifel: Sie war schwanger.
Nightingale starrte in die Augen ihres Vaters und erlebte plötzlich einen überraschenden Zornesausbruch. Sie hatte die Ehe ihrer Eltern als eine Beziehung gesehen, die von sachlicher Akzeptanz geprägt war, nüchtern und bequem, durchsetzt von gelegentlichen Streitereien. Beschämt wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung gehabt hatte, woran die Liebe ihrer Eltern gescheitert war.
Sie riss das Band vom ersten Bündel Briefe, die, wie sie feststellte, aus demselben Zeitraum stammten wie die Fotos. In einem schrieb Tante Ruth an ihren Bruder:
Lieber Henry,
hoffe, Dir geht’s gut. Du hast uns am Wochenende gefehlt – das heißt, Mutter hast Du gefehlt. Es war ihr Geburtstag, und Du hattest versprochen zu kommen. Aber genug davon. Ich möchte mich nicht auch noch unter die vielen Nörgler einreihen. Hoffentlich ist das nicht erblich!
Wie geht’s Mary, ist ihr morgens immer noch so oft schlecht? Mutter meint, es werden Zwillinge – stell Dich schon mal drauf ein, von solchen Dingen versteht sie nämlich was.
Lulu fragt noch immer nach Dir. Ich weiß, Du magst es nicht, wenn ich von ihr schreibe, aber sie ist meine Freundin, und ich kann nur schwer
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