Crescendo
reagierte trotzig.
»Er hat nie vergessen, was ich für ihn getan habe, welches Risiko ich für ihn eingegangen bin!«
»Und meine richtige Mutter, was war mit ihr? Hat sie je die Wahrheit erfahren?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Wer hätte es ihr sagen sollen? Es gab ja nur ganz wenige Menschen, die überhaupt wussten, dass sie schwanger gewesen war – Ihr Vater, Ihre Tante, ich, ein paar Freunde – deshalb stellte auch keiner neugierige Fragen.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Als ich nach Hause zurückkam, war sie wach und weinte wieder. Sie wollte Ihrem Vater von seinem toten Kind erzählen, aber ich konnte sie überzeugen, dass es besser wäre, wenn ich ihn anrief. An dem Tag musste ich sie ständig im Auge behalten. Sie wäre durchaus fähig gewesen, sich allein auf den Weg zur Farm zu machen, selbst in ihrem Zustand, und es hätte einen Skandal geben können, wenn sie von jemandem aus dem Dorf gesehen worden wäre.
Schließlich kam Ihr Vater am Nachmittag, um sie zu besuchen. Er sah natürlich furchtbar aus. Als er Lulu und das Baby sah, brach er vollends zusammen. Einen Moment lang dachte ich schon, er würde ihr die Wahrheit sagen, doch dann sah er, wie ich den Kopf schüttelte, und er hielt den Mund. Ich hab die beiden allein gelassen. Als er nach fast einer Stunde wieder herauskam, hat er mich auf die Wange geküsst und ist ohne ein Wort gegangen.
Irgendwie konnte er Lulu dazu bringen, das Baby nicht hier auf dem Friedhof bestatten zu lassen. Sie war in irgend so einer buddhistischen Hippiesekte, deshalb war das wahrscheinlich nicht allzu schwierig. Die Geburt wurde nie gemeldet, ebenso wenig wie Dianes Tod, deshalb konnte er die ganze Geschichte geheim halten.
Er und Lulu sind dann später gemeinsam losgezogen und haben das tote Baby irgendwo beerdigt. Ich habe keine Ahnung wo, und ich wollte es auch nicht wissen. Lulu ist nach London zurückgekehrt und hat sich an einen persönlichen Freund gewandt, der Arzt war. Mary und Ihr Vater sind mit den Babys nach Hause gefahren, und das war’s dann.«
»Das war’s dann.« Beim zornigen Klang von Nightingales Stimme riss Amelia die Augen weit auf. »Ein kniffliges Problemchen gelöst, und noch dazu so, dass mein Vater durch das Geheimnis für alle Zeit an Sie gebunden war. Und Sie hatten sich geschickt an den beiden Frauen gerächt, die Ihnen meinen Vater weggenommen hatten, an seiner Frau und seiner Geliebten!«
»So war das absolut nicht.« Amelia stand jäh auf und stieß dabei den Stuhl um, der laut auf die Fliesen klapperte. »Ich habe im Interesse aller Beteiligten gehandelt. Wirklich, Louise, versuchen Sie doch, das zu verstehen. Es war auch in Ihrem Interesse. Ich gebe ja zu, dass ich Lulu nicht mochte, aber ich bin nicht ungerecht. Sie hätte eine schlechte Mutter abgegeben.«
»Sie hatte nie die Chance, es zu versuchen, die haben Sie ihr genommen! Sehen Sie denn nicht, dass das, was Sie getan haben, krank und zerstörerisch war? Sie hätten fast mein Leben zerstört. Weiß der Himmel, was Sie dem Leben meiner Mutter angetan haben. Und Sie wagen es auch noch, die ganze Sache so hinzustellen, als hätten Sie nur die besten Absichten gehabt. Was war denn mit dem Recht meiner Mutter auf ihr Kind, und mit meinem Recht auf eine richtige Mutter, die mich geliebt hätte?«
»Die Sie geliebt hätte! Was meinen Sie denn, was für ein Leben Sie mit der Frau gehabt hätten? Sie hat ihre Trauer so schnell überwunden, dass sie sich schon sechs Monate später verlobt hat! Glauben Sie mir. Ich war mir damals sicher, dass Lulu Sie nicht behalten hätte, und das glaube ich auch heute noch. Sie hätte Sie garantiert zur Adoption freigegeben, und so sind Sie wenigstens bei Ihrem richtigen Vater und zusammen mit Ihrem Halbbruder aufgewachsen. Und ich habe Ihrer Mutter die Trauer um Diane erspart.«
»Ich habe die arme tote Diane nicht ersetzt. Mein Vater wollte gar nicht, dass ich Diane bin, und ich habe mein ganzes Leben gegen den Schatten dieser Lüge angekämpft, ohne je zu begreifen, was ich da eigentlich tat. Ich bin Louise Nightingale, und ich weiß, ohne dass Sie mir das sagen müssen, dass das der Name war, den meine wirkliche Mutter für mich ausgesucht hatte, der Name, den mein Vater an meiner Wiege und später an meinem Bett geflüstert hat, wenn er dachte, ich schliefe.
Und Sie sind gescheitert, begreifen Sie das nicht? Als ich größer wurde und meiner richtigen Mutter von Tag zu Tag ähnlicher sah, war ich für meinen Vater eine
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