Crescendo
unglücklich Nightingale war. Sie streckte eine von der Arbeit gerötete Hand aus und tätschelte die von Nightingale, die noch immer das Grogglas umklammerte.
»Haben Sie denn nie etwas geahnt? Hatten Sie nie irgendwelche Zweifel?«
Nightingale erinnerte sich an ihr Gefühl, nicht dazuzugehören, an die ständigen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, an die eisige Korrektheit ihrer Mutter, ihre verweigerte Liebe. Sie nickte.
»Als ich in die Pubertät kam – aber ich dachte, sie behandelten mich deshalb so, weil ich sie enttäuscht hatte.« Sie ließ den Kopf auf das raue Holz der Tischplatte sinken. »Oh Gott! Einmal hab ich sogar meiner Mutter vorgeworfen, sie würde nur so tun, als sei ich ihre Tochter.« Bei der Erinnerung daran durchlief es sie kalt, und sie fröstelte. »Da hat sie mir die Geburtsurkunde unter die Nase gehalten.«
Vor ihrem geistigen Auge sah sie erneut die Wut ihrer Mutter und das dünne Stück Papier, das sie wie eine Siegesfahne schwenkte. Sie hatte es ihrer Mutter entrissen – aber sie würde aufhören müssen, sie so zu nennen – sie hatte es Mary entrissen, und jedes Wort gelesen. Louise, ihr zweiter Name, der ihr lieber war, wurde nirgends erwähnt. Der wahre Grund für das vermeintliche Versäumnis lag jetzt auf der Hand. Sie war nicht Diane Nightingale.
»Was ist aus dem anderen Baby geworden, aus Diane?«
»Sie ist nur einen Tag alt geworden. Ihre Mutter, Verzeihung, Mary, hat die Zwillinge auf Mill Farm bekommen. Sie kamen etwas zu früh, waren aber bei guter Gesundheit und kräftig, deshalb meinte die Hebamme, sie könnten ruhig zu Hause bleiben. Der Arzt hat Ihre Mutter versorgt, und das war’s dann. Diane war die kleinere von den beiden, aber auch sie kam kerngesund zur Welt. Keines der Babys gab Anlass zur Sorge.«
»Und als sie starb, haben sie beschlossen, mich zu adoptieren.«
Amelia rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her, ließ aber ihre freie Hand auf Nightingales Handgelenk, während sie wieder einen Schluck trank.
»Es war nicht ganz so. Sie kamen eine Nacht nach den Zwillingen zur Welt, genau zum errechneten Termin. Lulu war zurück ins Dorf gekommen und wohnte bei Ihrer Tante, aber sie hatte sich bei keinem Arzt sehen lassen. Sie war ein wildes Ding, zurück zur Natur und so. Sie wollte eine natürliche Geburt und hat Ihre Tante überredet, ihr bei der Geburt zu helfen. Ihre Tante war ziemlich nervös, aber sie war dermaßen vernarrt in Lulu, dass sie sich drauf einließ.«
In Amelias Stimme schwang plötzlich so viel Verachtung mit, dass Nightingale extra einen Schluck aus ihrem Glas nahm, nur um ihre Hände wegziehen zu können.
»Im August tauchten dann Ihr Vater und Ihre Mu… Mary unangemeldet auf Mill Farm auf, und Lulu musste weg. Ich nahm sie bei mir zu Hause auf. George war auf einer Reise im Nahen Osten, sonst hätte ich Nein gesagt, aber Ruth war nun mal eine gute Bekannte und …«
»Mein Vater hat Sie darum gebeten?«
»Woher wissen Sie das?« Nightingale ersparte sich die Antwort, so klar lag es für sie auf der Hand, dass Amelia für ihren Vater alles getan hätte. »Ich wollte nicht, dass Mary sich ihretwegen aufregt.«
»Sie meinen, dass mein Vater sich ihretwegen aufregt, nicht wahr? Sie liebten ihn noch immer. Er wusste das, und deshalb wandte er sich an Sie, wenn es irgendwelche Probleme gab.«
Amelias Gesichtsausdruck verriet, dass sie diesen Kommentar als Kompliment auffasste.
»Bitte erzählen Sie weiter, tun Sie’s für meinen Vater. Sie waren ihm so eine gute Freundin, lassen Sie seine Tochter jetzt nicht im Stich. Er würde wollen, dass ich die ganze Wahrheit erfahre.«
»Da bin ich mir nicht sicher.« Amelia leerte ihr Glas und blickte hoffnungsvoll zur Rumflasche hinüber. Nightingale machte ihr noch einen Grog und hoffte, dass der Alkohol Amelias letzte Bedenken zerstreute.
»Was auch immer Sie getan haben, ich bin sicher, Sie haben es aus Liebe zu meinem Vater getan.« Nightingale zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie innerlich etwas empfand, das nicht weit von Hass entfernt war.
»Das stimmt, absolut. Glauben Sie mir. Und natürlich war es auch für Sie besser so, meine Liebe. Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie nicht böse werden. Wir haben es nur gut gemeint.«
Trotz ihrer schwachen körperlichen Reaktion arbeitete Nightingales Verstand plötzlich messerscharf. Sie war schon immer ein logisch denkender Mensch gewesen, und daran klammerte sie sich jetzt, als die Grundfesten ihrer Welt ins
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