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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Corley
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ihre Tante und ihre Mutter einander nie besonders leiden konnten.
     
    Wenn ich nicht mehr da bin, werden die Leute viel Schlechtes über mich erzählen, aber meine Liebe zu Dir ist stark, und ich werde von dort, wo ich hingehe, auf Dich aufpassen. Ich habe in den letzten Wochen überlegt, wie viel ich Dir von gewissen Dingen verraten soll, von denen Du nicht das Geringste ahnst. Du bist noch zu jung für die ganze Wahrheit, und es wäre Deinem Vater gegenüber nicht fair, Dinge zu enthüllen, die er Dir selbst erzählen sollte. Er hat mir versprochen, dass er mit Dir spricht, wenn du alt genug bist, und darauf muss ich vertrauen.
    Trotzdem fürchte ich, dass er sein Versprechen vielleicht bricht oder vergisst. Also habe ich mich für die zweitbeste Lösung entschieden. Zusammen mit diesem Brief findest Du in unserer Schublade einige meiner Tagebücher und Briefe. Falls Du schlau genug bist, und da habe ich keine Zweifel, und wenn Du über genug Lebenserfahrung verfügst, was in einigen Jahren der Fall sein wird, wirst Du Dir alles selbst zusammenreimen können.
     
    Nightingale schüttelte verwirrt den Kopf. Ihr Vater hatte ihr nie ein Geheimnis offenbart. Mit siebzehn war sie auf ein »Mädchenpensionat« geschickt worden, wie ihre Mutter es gern nannte, doch in Wirklichkeit war es ein Internat für schwierige Mädchen, die woanders keine Chance mehr gehabt hätten. Ihre Volljährigkeit hatte sie dort mit einer heimlichen Schlafsaalparty gefeiert.
    Statt sich ihrer Tante näher zu fühlen, hatten der Brief und sein sonderbarer Inhalt sie irgendwie abgestoßen. Um ihrem Unbehagen gegenzusteuern, wurde sie aktiv. Sie fing an, die Küche sauber zu machen, überprüfte, ob das Rauchabzugsrohr frei war und zündete den Herd an. Drei Stunden später stand Nightingale erhitzt, schmutzig, aber glücklich mitten auf dem feuchten Steinboden und bewunderte mit einer Drehung um die eigene Achse ihr Werk. Etwas Farbe an die Wände, und es wäre wieder ein hübscher Raum.
    Nachdem sie einen halben Laib Brot und eine Flasche Orangensaft verputzt hatte, erkundete sie den Rest des Hauses. Das Wohnzimmer wurde von einem offenen Kamin beherrscht, in dem sie als Kind noch aufrecht hatte stehen können. Jetzt war sie dafür zu groß. Eines der Schlafzimmer oben im Haus war derart feucht, dass der Putz von den Wänden gefallen war, aber die anderen drei sahen gut aus. Auch das altmodische Badezimmer befand sich in einem besseren Zustand, als sie befürchtet hatte. Die Treppe ächzte unter ihrem Gewicht, als sie wieder nach unten in die Diele ging, und sie hielt sich am Geländer fest. Das war auch gut so, denn eine Eckstufe bog sich erschreckend weit durch.
    Die Sonne lockte sie nach draußen. Das Licht glitzerte auf den Überresten von Frühbeeten im Gemüsegarten, wo der Sommer den Winter in einer unbeobachteten Schlacht besiegt hatte. Dunst stieg von der wuchernden Vegetation innerhalb der Gartenmauern auf. Gleich daneben standen Obstbäume, und an der südlichen Mauer beugte sich eine Weinranke unter der Last ihrer Blüten.
    Ein dichter, niedergedrückter Strauch wippte hoch, als sie aus der Tür trat, und ein wunderbarer Duft, der an sonntägliche Mittagessen erinnerte, erfüllte die Luft. Im Kräutergarten kämpften sich lila Schnittlauchköpfe durch Majoran und blauen Salbei. Ein mächtiger Rosmarinbusch okkupierte ein halbes Beet, und die Minze war ihrem Terrakottagefängnis entflohen und strebte der Freiheit entgegen. Sobald sie im Haus fertig war, würde Nightingale sich um den Garten kümmern. Sie würde Salat anpflanzen, den Kräutergarten auf Vordermann bringen und danach den wilden Wein versorgen, überhaupt alles, was aussah, als könnte es liebevolle Pflege gebrauchen.
    Und neun Uhr machte sie Feierabend und wusch sich im Bach, wärmte sich dann am Herd auf und machte sich einen Rosmarinaufguss, ein natürliches Antiseptikum gegen ihre Kratzer und Hautrötungen. Sie aß belegte Brote, und als die Sonne unterging, rollte sie ihren Schlafsack auf dem Fußboden aus. Ihr Atem wurde schwer und langsam, und sie stellte sich vor, die klappernden Hufe der Ponys der Schmuggler zu hören, die Kisten mit Alkohol und Seide unten in den Höhlen der Klippen vor den Steuereintreibern versteckten.

TEIL ZWEI
    Das Schicksal schrieb ihr eine erschütternde Tragödie, und sie spielte sie in Strumpfhosen.
    Sir Max Beerbohm
     
    Sanftheit, Fügsamkeit und eine schoßhundhafte Zuneigung werden unentwegt als die Kardinaltugenden der Frau

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