Crescendo
sich besser entspannen als tief im alten England. Ihr Vater hatte behauptet, dass seine Familie von den Kelten abstammte, eine romantische Vorstellung, die Nightingale eingedenk des Familiennamens für unwahrscheinlich hielt. Allerdings stammte er unbestritten aus einer alten Devonshire-Familie. Seine Schwester hatte hier gelebt und war hier gestorben, auf der Farm, die um die alte Mühle der Familie herum errichtet worden war.
Tante Ruth war Nightingales Lieblingsverwandte gewesen, und als sie von ihrem Tod erfuhr, hatte sie sich einen ganzen Tag lang die Augen ausgeweint. Ihre Tante war erst Mitte vierzig gewesen und hatte die Farm an Nightingales Vater vererbt. Er wiederum hatte sie, wie nicht anders zu erwarten, seinem Sohn vermacht, zusammen mit dem übrigen Besitz; Nightingale war mit einem kleinen jährlichen Einkommen abgespeist worden. Sie würde nie hungern müssen, aber sie war weiß Gott nicht reich. Dass sie kein Vermögen besaß, war ihr nicht wichtig, doch dass ihre Eltern auf diese Weise demonstriert hatten, wie wenig sie ihnen bedeutete, das tat weh.
Sie spähte durch die Windschutzscheibe und den Regen und hielt Ausschau nach Schildern. Mill Farm lag im Wald, nah an der wilden Küste von Nord-Devon. Niemand würde sie hier vermuten. Nur Simon und Naomi wussten überhaupt von der Farm, und die beiden hielten sie für unbewohnbar. Sie kam an Okehampton vorbei und suchte nach den vertrauten Orientierungspunkten, aber sie erkannte die Landschaft nicht wieder, da der Straßenverlauf geändert worden war. Als sie auf eine verlassene Nebenstraße bog, sah sie eine kleine tropfnasse graue Kirche dicht neben einer Gruppe riesiger Eiben. Sie kam ihr bekannt vor. Ein älterer Mann kam zu Fuß am Straßenrand auf sie zu, den Kopf gegen den Regen gesenkt. Sie hielt neben ihm.
»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich zur Mill Farm komme?«
Er drehte sich um, den Kopf noch gebeugt, und trat einen Schritt näher an das Auto heran, eine Hand ans Ohr gelegt. Sie wiederholte die Frage, mit schlechtem Gewissen, weil sie im Trockenen saß, während er im Regen stand. Er hatte sie diesmal auf jeden Fall verstanden, doch statt zu antworten, blickte er sie forschend an. Der Regen fiel auf den Ärmel ihres Kaschmirpullovers, während sie auf eine Antwort wartete.
»Ist lange her, dass mich jemand nach dem Weg zur Mill Farm gefragt hat. Sind Sie aus der Familie?«
Sie nickte.
»Also eine Nightingale, schön, schön. Sie haben keine Ähnlichkeit mit Ihrer … Tante?« Er wollte ihr Informationen entlocken für seine Hilfe.
»Bei mir ist die Familienähnlichkeit nicht sehr ausgeprägt.«
»Stimmt, aber komisch, Sie erinnern mich an jemanden.«
»Mill Farm?«, wiederholte sie hoffnungsvoll.
»Ja, ja. Ich kann Sie hinbringen, wenn Sie wollen. Der Weg ist schwer zu beschreiben, jetzt wo das Schild abgefallen ist. Ich muss aber vorher in der Kirche nach dem Rechten sehen. Wenn die Tür nicht richtig abgeschlossen ist und was gestohlen wird, kommt die Versicherung nicht dafür auf. Dauert ein paar Minuten.«
Statt im Auto zu warten, nahm Nightingale ihren Schirm und folgte dem Mann über einen vom Moosbewuchs rutschig gewordenen Kiesweg. Auf dem Kirchhof drängten sich alte Gräber mit schiefen Grabsteinen, die meisten zum Weg hin geneigt. Manche Grabstellen hatten kunstvoll verzierte Kreuze, die den alten keltischen Stil nachahmten, andere waren traditioneller, mit abgerundeten Gedenksteinen, deren Inschriften im Laufe der Zeit unleserlich geworden waren.
In der Kirche war es dunkel und kalt. Auf dem Altar schimmerten blasse Kerzen, die nicht brannten, wie Gespenster im schwachen Licht, das durch die schmalen Seitenfenster fiel, und dazwischen funkelte ein silbernes Kruzifix.
»Gut, alles aus. Wir können fahren.«
»Überprüfen Sie denn nicht die Tür zur Sakristei?«
Er murmelte etwas vor sich hin und schlurfte davon, ließ sie im Dunkeln stehen. Sie fröstelte und bekam an den Armen Gänsehaut. Um sich abzulenken, sah sie sich eines der Bleiglasfenster an. Darunter stand ein erstaunliches Taufbecken. Es war aus graugrünem Marmor gemeißelt und hatte ein Relief, dessen Figuren sich überaus lebendig von dem Stein abhoben. Die Darstellung wirkte täuschend echt. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Nase eines Rehs und zuckte vor Schreck zusammen, denn durch die kühle Luft in der Kirche fühlte sich die Nase richtig feucht an. Trotz der sakralen Verwendung des Taufbeckens war es eines der
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