Crescendo
träumte sie manchmal, sie und ihre Tante wären durch Überschwemmungen oder meterhohen Schnee von der Außenwelt abgeschnitten und könnten nur durch Vorräte aus dem Garten, Fischfang und Jagd überleben. Woche für Woche durchstreifte sie die Hügel, ging im Meer schwimmen oder saß an Regentagen mit ihrem Lieblingsbuch gemütlich an dem großen, grünen Ofen.
Das gleiche Abenteuergefühl beschlich sie, als der Wagen erneut in eine Senke zwischen den Hügeln tauchte und dann den letzten Hang erklomm. Nur wenige Meilen hinter ihr drängten sich Menschen unter Regenschirmen in hektischen Städtchen, aber hier war es, als würden sie gar nicht existieren.
Der Regen wurde schwächer, und sie stellte die Scheibenwischer aus. Allmählich machten die letzten Ausläufer des Waldes hohem Gras und Disteln Platz. Dahinter, schwach wie Rauch, konnte man grauen Schiefer erahnen, und ihr Herz machte einen Sprung. Das Dach kam in Sicht, dann ein bedenklich geneigter Schornstein und schließlich das Haus. Sie fuhr über Unkraut und Brennnesseln, hörte Brombeerzweige über den Lack ihres Wagens kratzen, bis sie vor der Vordertür hielt. Sie war zu Hause.
Eine Windböe peitschte dicke Regentropfen aufs Dach ihres Wagens, dann war es still. Sie blickte auf das Haus. Ein Fenster im Erdgeschoss war zerbrochen, ein weiteres oberhalb der Haustür hing schief in den Angeln. In der Dachrinne hatten Vögel ihre Nester gebaut, und die Wände unter den Traufen waren mit alten Schwalbennestern übersät. In dem schönen Bauerngarten waren einmal Stockrosen und Sonnenblumen gewachsen. Jetzt kämpfte eine Armee gefährlich grüner Brennnesseln mit Ampfer und einer wilden Rose, deren rosaweiße Blütenblätter zwischen den kümmerlichen Resten von Hagebutten vom letzten Herbst leuchteten.
Ein großer Eisenschlüssel passte genau ins Haustürschloss. Sie konnte ihn mühelos drehen, aber die Türklinke ließ sich nicht herunterdrücken. Schließlich kletterte sie durch das kaputte Fenster in die modrige, mit Steinplatten ausgelegte Diele, wo sie vorsichtig über Glasscherben auf dem Boden ging. Unter die Klinke der Haustür war ein Stuhl geklemmt, den sie beiseite schob. Gegenüber der Treppe nach oben war ein Kamin, in dem das Skelett eines großen Vogels lag. Weiter hinten führte ein Gang zur Rückseite des Hauses und in die Küche. Irgendwann hatte hier jemand kampiert. Aus den meisten Küchenstühlen war Kleinholz zum Verfeuern gemacht worden, und an der Kaminwand lag eine angeschimmelte, alte Matratze. Trotz der Verwahrlosung fühlte Nightingale sich beschwingt und erkundete den Rest des Hauses.
Wer immer sich hier heimlich eingenistet hatte, er war wählerisch gewesen. Das Esszimmer mit der riesigen, dunklen Eichenanrichte war unberührt. Mit einem Lächeln, das ihre Tante wieder erkannt hätte, sprang sie darauf zu und schob die Finger unter die Abdeckplatte. Mit einer geschickten Drehung löste sie den Verschluss der geheimen Schublade, die sogleich aufsprang. Als Kind war sie in dieses große Geheimnis eingeweiht worden, musste aber versprechen, niemals hineinzuschauen. Und sie hatte es nie getan, bis heute.
Als sie die Schublade aufzog, entwich ein kleiner Seufzer ins Zimmer. Sie fand ein Bündel Briefe, das mit einem verblassten, blauen Band verschnürt war, ein Tagebuch, ein Foto und den Rosenkranz ihrer Tante. Zuoberst lag ein Kuvert mit der schrägen Handschrift ihrer Tante. Mit einem Schauder, der ihr die Nackenhaare aufstellte, sah sie, dass der Brief an sie adressiert war. Es war, als hätte der Geist ihrer Tante all die Jahre auf ihre Rückkehr gewartet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie erst jetzt hergekommen war. Weil es im Haus zu kalt war, nahm sie den Brief mit in den Wagen. In dem mit Wachs versiegelten Umschlag waren zwei handbeschriebene Blätter.
Meine liebe Louise, (ihre Tante hatte sie stets bei ihrem bevorzugten Namen genannt) ich werde dich wohl nicht noch einmal sehen, und dabei habe ich dir noch so viel zu sagen. Erstens, Du bist ein wunderbares Mädchen, vergiss das nie.
Du hast ganz besondere Begabungen, ich denke da nur an deine Intelligenz, deine Warmherzigkeit und deine Menschenkenntnis. Lass dir niemals einreden, Du seist nicht kreativ, denn das bist Du. Ich weiß nicht, wie sich Deine Kreativität einmal ausdrücken wird, aber sie ist da, keine Frage, denn Du bist deiner Mutter in so vieler Hinsicht ähnlich.
Nightingale hörte erstaunt auf zu lesen. Sie hatte gedacht, dass
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