Crescendo
nach Osten und wurden von Säulen aus geschnitztem Eichenholz umrahmt, die zu den schweren Möbeln im Saal passten. Die englische Klimaanlage, die es nicht gewohnt war, mit richtiger Hitze fertig zu werden, zeigte erste Anzeichen von Schwäche. London im April war nun mal normalerweise nicht warm. Erste gelbe Lichtstrahlen wanderten jetzt allmählich über den blauen Teppichboden zum Zeugenstand. Die Tische von Verteidigung und Anklagevertretung standen ein Stück weiter hinten, in der relativen Behaglichkeit des Schattens, aber Nightingale würde bald voll von der Sonne beschienen werden.
»Könnte ich bitte etwas Wasser haben?«
Der Richter hatte Mitleid, und man brachte ihr einen Plastikbecher mit lauwarmem Leitungswasser. Sie nippte daran und fuhr mit ihrer Aussage fort. Das meiste wusste sie auswendig, aber sie schaute trotzdem in ihren Notizen nach, um die Geschworenen daran zu erinnern, dass sie eine Polizistin war, die Ermittlungsarbeit geleistet hatte, keine passionierte Computerspielerin.
Die Sonne erreichte sie. Es gab eine kurze Unterbrechung, als der Richter um einen erneuten Versuch bat, die Jalousien herunterzulassen, aber sie blieben weiter störrisch auf Halbmast.
»Sie dürfen Ihren Blazer ausziehen, wenn Sie möchten, Sergeant«, sagte er rücksichtsvoll.
Selbst ohne Blazer wurden ihr die Haare im Nacken zuerst klamm, dann nass. Von Zeit zu Zeit dröhnte die Klimaanlage los und schien sich doppelt anzustrengen, um den Saal zu kühlen, erreichte aber lediglich, dass Verteidiger und Zeugin bei dem Lärm lauter sprechen mussten. Nightingale verlor allmählich die Stimme.
Stringer dagegen blühte in der Hitze förmlich auf. Sein Gesicht war rosa und glänzend, aber seine Sprachgewalt nahm stetig zu. Es war, als könnte er ihre wachsende Schwäche spüren. Über den Boden krochen Schattenstreifen von der Kolonnade pseudogriechischer Säulen, die draußen dem Sonnenlicht trotzten, und lenkten Nightingale ab. Sie hatte Halsschmerzen und der Kopf tat ihr weh. Stringer versuchte erneut, sie als skrupellose Jägerin einer unschuldigen Beute darzustellen. Sie bekämpfte ihn mit jedem ruhigen, überlegten Satz oder mit leichtem Kopfschütteln, ihr Temperament fest im Zaum haltend. Die ganze Zeit hoffte sie, dass der Richter und die Geschworenen die Wahrheit erkannten, dass nämlich sie die Gejagte gewesen war. Ein Schweißtropfen lief ihr von der Stirn und brannte ihr im linken Auge.
»Kommen Sie, Sergeant. Wir können nicht den ganzen Tag auf Ihre Antwort warten.«
»Es … Es tut mir Leid. Könnten Sie die Frage wiederholen?«
»Was?« Seine Stimme hallte in ihrem Kopf wider, lauter als die Klimaanlage.
»Ich sagte«, sie schluckte trocken, ihr Mund wie ausgedörrt, »könnten Sie die Frage bitte wiederholen?«
Sie legte die Finger an die Wange, überrascht, wie heiß sie sich anfühlte. Es beunruhigte sie, und sie legte ihre freie Hand auf das heiße Holz des Zeugenstandes. Schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen.
» … gesagt, dass Sie … was schwer zu glauben ist, wenn man bedenkt …« Seine Stimme wurde immer wieder lauter und leiser. Sie blinzelte erneut und versuchte sich zu konzentrieren, aber die schwarzen Punkte wurden größer. Irgendwo sprach der Richter.
»… den Eindruck, Sergeant Nightingale fühlt sich ein wenig matt.«
»Nein, mir geht’s gut«, sagte sie und kippte prompt nach vorn, um von zwei Händen aufgefangen zu werden.
Als das Blut ihr in den Kopf strömte, wurde ihre Sicht klar, und sie konnte wieder hören. Sie trank das Wasser, das ihr gereicht wurde, und stand langsam auf, stützte sich schwer auf den Zeugenstand.
»Ist alles in Ordnung, Sergeant?«
»Ja, das kommt bloß von der Hitze. Es tut mir Leid. Könnte ich mich wohl ein paar Minuten irgendwo hinsetzen, wo es kühler ist?«
Draußen im Korridor umarmte der Staatsanwalt sie kurz.
»Das ist mir so peinlich, ich …«
»Das war genial. Die Verletzlichkeitsnummer, das hat die Geschworenen dran erinnert, dass Sie eine Frau sind. Phantastisch! Hervorragender Schachzug.«
Nightingale setzte sich völlig verdattert hin. Wofür hielt er sie? Glaubte er, sie sei imstande, sich in Ausübung ihrer Pflicht wie eine Maschine zu verhalten, egal um welchen persönlichen Preis? Ihre Therapeutin hatte ihr geraten, sich nicht zwingen zu lassen, als Zeugin auszusagen. Die Frau hatte Recht mit der Annahme, dass der Vergewaltigungsversuch bei ihr ein schweres Trauma ausgelöst hatte, das nur wenig mit den
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