Crisis
Bedürfnisse der Patienten die undurchschaubaren Regeln ihres Versicherungsumfangs in den Hintergrund drängten. Plötzlich konnte Craig eine ganze Stunde mit einem Patienten verbringen, wenn dessen Zustand es erforderte. Solche Entscheidungen lagen nun wieder bei ihm – so, wie es eigentlich sein sollte. Mit einem Schlag war er von der doppelten Geißel sinkender Vergütungen und steigender Kosten befreit worden, die ihn gezwungen hatte, immer mehr Patienten in seinen vollen Terminkalender zu zwängen. Er brauchte jetzt nicht länger mit den Angestellten von Versicherungen herumzustreiten, die oft nicht die geringste Ahnung von Medizin hatten, um sein Geld zu bekommen. Er hatte sogar angefangen, Hausbesuche zu machen, wenn es dem Wohl des Patienten diente, etwas, das in seinem früheren Leben undenkbar gewesen wäre.
Es war wie ein Wirklichkeit gewordener Traum. Als ihm das unerwartete Angebot ins Haus geflattert war, hatte er seinem zukünftigen Wohltäter und heutigen Partner geantwortet, dass er darüber nachdenken müsse. Wie hatte er nur so dumm sein können, nicht auf der Stelle zuzusagen? Was, wenn er die Gelegenheit verpasst hätte, nach den Sternen zu greifen? Jetzt war alles besser, bis auf die Sache mit seiner Familie, aber die Wurzel dieses Problems lag darin, dass er in seiner früheren beruflichen Situation vom ersten Tag an überarbeitet gewesen war. Letztendlich war er selbst daran schuld gewesen, was er auch bereitwillig eingestand. Er hatte zugelassen, dass die Anforderungen des heutigen Arztdaseins sein Leben bestimmten und einschränkten. Aber jetzt hatte er diese Fesseln abgestreift, so dass auch die familiären Probleme vielleicht mit der Zeit gelöst werden könnten. Vielleicht gelang es ihm irgendwann, Alexis davon zu überzeugen, wie viel schöner ihr aller Leben sein könnte. In der Zwischenzeit beschloss er, es zu genießen, ein besserer Mensch zu werden. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Craig freie Zeit und Geld auf dem Konto.
Craig hielt ein Ende der Schleife in der Hand und wollte gerade einen erneuten Versuch machen, als sein Handy klingelte. Er verzog das Gesicht und sah auf die Uhr. Es war zehn nach sieben. Das Konzert sollte um halb neun anfangen. Sein Blick wanderte zum Namen auf dem Display. Er lautete Stanhope.
»Verdammt!«, platzte Craig heraus. Er klappte das Handy auf und meldete sich.
»Doktor Bowman!«, hörte er eine kultivierte Stimme. »Ich rufe an wegen Patience. Es geht ihr schlechter. Ich glaube, diesmal ist sie wirklich krank.«
»Was ist denn los, Jordan?«, fragte Craig, während er sich umdrehte, um einen Blick ins Bad zu werfen. Leona hatte das Klingeln gehört und sah zu ihm herüber. Mit den Lippen formte er den Namen Stanhope, und Leona nickte.
Sie wusste, was das bedeutete, und Craig konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass sie das Gleiche befürchtete wie er – dass nämlich ihr Abend in Gefahr war. Wenn sie zu spät in der Symphony Hall ankamen, würden sie bis zur Pause warten müssen, ehe sie ihre Plätze einnehmen durften, was bedeutete, dass ihnen das Vergnügen und die Aufregung ihres großen Auftritts entgehen würden, dem sie beide so entgegenfieberten.
»Ich weiß nicht«, sagte Jordan. »Sie wirkt ungewöhnlich schwach. Sie scheint sich nicht einmal mehr aufsetzen zu können.«
»Welche Symptome zeigt sie denn noch, abgesehen von dieser Schwäche?«
»Ich glaube, wir sollten einen Krankenwagen rufen und ins Krankenhaus fahren. Sie ist sehr verängstigt, und das macht mir allmählich Sorgen.«
»Wenn Sie besorgt sind, Jordan, dann bin ich es auch«, sagte Craig beruhigend. »Welche Symptome hat sie denn? Ich meine, ich war doch heute Morgen erst bei Ihnen und habe mich um ihr übliches Sammelsurium von Beschwerden gekümmert. Ist jetzt noch etwas anderes dazugekommen?« Patience Stanhope gehörte zu einem knappen halben Dutzend Patienten, die Craig als »Problempatienten« bezeichnete, und sie war die schlimmste von ihnen allen. Jeder Arzt hatte solche Patienten; bestenfalls fand man sie ermüdend, und im schlimmsten Fall trieben sie einen in den Wahnsinn. Es waren Patienten, die tagein, tagaus mit einer ganzen Litanei von Beschwerden ankamen, die zum größten Teil psychosomatisch waren oder einfach nur auf Einbildung beruhten, und denen nur selten mit irgendeiner Form von Therapie, nicht einmal mit alternativer Medizin, geholfen werden konnte. Craig hatte bei solchen Patienten alles versucht, vergeblich. Sie waren im Allgemeinen
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