Crisis
kulturellen Angebote der Stadt hatten sie nie genutzt.
Craig lebte inzwischen seit sechs Monaten von Alexis getrennt, da war es doch nicht verwerflich, eine neue Begleiterin zu haben. Er glaubte auch nicht, dass ihr Alter ein Problem darstellte. So lange er mit einer erwachsenen Frau zusammen war, die das College-Alter hinter sich gelassen hatte, sollte eigentlich alles in Ordnung sein. Schließlich war es dank seiner zahlreichen neuen Hobbys nur eine Frage der Zeit, bis er irgendwo in Begleitung gesehen wurde. Zusätzlich zu den regelmäßigen Besuchen in der Symphony Hall war er nicht nur Stammgast in einem neuen Fitness-Club geworden, sondern auch im Theater, im Ballett und bei einer Reihe von anderen Aktivitäten und gesellschaftlichen Zusammenkünften, an denen gebildete Menschen in einer Stadt von internationalem Rang teilnahmen. Da Alexis sich von Anfang an konsequent geweigert hatte, sich seinem neuen Ich anzuschließen, fühlte er sich jetzt dazu berechtigt, auszugehen, mit wem auch immer es ihm gefiel. Er würde sich nicht davon abhalten lassen, der Mensch zu werden, der er gerne sein wollte. Er war sogar Mitglied des Museums der Schönen Künste geworden und freute sich auf die Ausstellungseröffnungen, obwohl er noch nie eine besucht hatte. Während der anstrengenden, einsamen Jahre, in denen er darum gekämpft hatte, Arzt zu werden – und zwar der beste überhaupt –, hatte er auf solche Vergnügungen verzichten müssen, was hieß, dass er während zehn Jahren seines Erwachsenenlebens das Krankenhaus nur verlassen hatte, um zu schlafen. Und nachdem er schließlich seine Facharztausbildung in innerer Medizin abgeschlossen und seine eigene Praxis eröffnet hatte, hatte er sogar noch weniger Zeit für private Betätigungen gleich welcher Art gehabt, was leider auch sein Familienleben einschloss. Er war ein typischer, intellektuell provinzlerischer Workaholic geworden, der für niemanden außer seinen Patienten mehr Zeit hatte. Doch das änderte sich nun, und Bedauern oder Schuldgefühle, vor allem seiner Familie gegenüber, mussten erst einmal abgelegt werden. Der neue Dr. Craig Bowman hatte die Tretmühle des gehetzten, unbefriedigenden und unkultivierten Alltagslebens hinter sich gelassen. Er wusste, dass manche Menschen seinen Zustand als Midlife-Crisis bezeichnen würden, aber er hatte einen anderen Namen dafür. Er nannte es Wiedergeburt oder, treffender, sein Erwachen.
Während des vergangenen Jahres hatte sich Craig voll und ganz dem Ziel gewidmet – wenn er nicht gar der Obsession verfallen war –, ein interessanterer, glücklicherer, vielseitigerer, besserer Mensch und dadurch auch ein besserer Arzt zu werden. Auf dem Schreibtisch seiner Stadtwohnung lag ein Stapel Vorlesungsverzeichnisse von verschiedenen örtlichen Universitäten, darunter auch Harvard. Er hatte vor, geisteswissenschaftliche Vorlesungen zu besuchen: vielleicht eine oder zwei pro Semester, um die verlorene Zeit aufzuholen. Und das Allerbeste war, dass er dank seines neuen Lebens seine geliebte Forschung wieder aufnehmen konnte, die vollkommen auf der Strecke geblieben war, nachdem er zu praktizieren begonnen hatte. Was als lukrativer Job an der medizinischen Fakultät begonnen hatte, wo er unbedeutende Routinearbeiten für einen Professor erledigte, der Natriumkanäle in Muskel- und Nervenzellen erforschte, war zu einer Passion geworden, nachdem ihn dieser an der eigentlichen Forschungsarbeit beteiligt hatte. In seiner Zeit als Student und später als Assistenzarzt hatte er sogar einige wissenschaftliche Aufsätze mitverfasst, die auf große Anerkennung gestoßen waren. Jetzt konnte er sich endlich wieder seinen Forschungen widmen, denn er hatte genügend Zeit, zwei Nachmittage in der Woche in einem Labor zu verbringen, und es war großartig. Leona bezeichnete ihn als einen Renaissancemenschen, und obwohl er wusste, dass es noch etwas verfrüht war, hoffte er, in ein paar Jahren diesem Ideal näherzukommen.
Craigs Metamorphose hatte recht plötzlich und vollkommen unerwartet begonnen. Vor etwas über einem Jahr hatte sich sein Berufsleben und die Art seines Praktizierens durch einen glücklichen Zufall dramatisch verändert, was den doppelten Vorteil hatte, dass sich sowohl sein Einkommen als auch die Befriedigung, die sein Beruf ihm schenkte, deutlich erhöht hatten. Mit einem Mal war es ihm möglich geworden, tatsächlich die Art von Medizin zu praktizieren, die er an der medizinischen Fakultät gelernt hatte, wo die
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