Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
nennt, die dort jedoch besser die Bezeichnung «Monster», wenn nicht gar «Leviathan» verdiente…
Wie immer zehrte die erzählte Geschichte mehr von der Wahrheit, als dass sie sie achtete. Und dies ist zweifellos die wichtigste Lektion meiner Lehrjahre in der Kunst der Berichterstattung: Lüge und Wahrheit bilden ein unauflösliches Paar. Mehr noch – das Abenteuer meines Bruders hat dazu den unwiderlegbaren Beweis geliefert –: Gerade durch die Lüge erhebt man die Wahrheit zu ihrer Größe.
Den Franzosen, der mich auf den Einfall mit dem menschenfressenden Wald gebracht hat, lernte ich am Hafen kennen. Er nannte sich dort Guy, Guy Pietresson, doch wie eine ungeschickte Geste verraten kann, dass die Bekleidung geliehen oder gestohlen ist, so ließ eine gewisse Schroffheit seiner Aussprache erkennen, dass dieser Name falsch oder zumindest unvollständig war. Irgendwelche Possen des Schicksals müssen ihn aus der Bahn geworfen haben. Andere Possen hatten ihn veranlasst, sich in Lissabon einzuschiffen. Und wieder andere hatten ihn dorthin gebracht, wo er der Leidenschaft seines Lebens begegnete, der er auch seinen Tod verdankte: zu dem berühmten Wald. Als ich ihn kennenlernte, schwankte er vor Schwäche. Offenbar lassen einen diese bewaldeten Gebiete nicht mehr los. Sie schlüpfen in einen hinein in der Gestalt kleiner Tiere, die in ihrer Heimtücke ebenso verheerend wie beharrlich sind.
Er hatte sich zur Goldsuche an den Küsten Afrikas anheuern lassen. Doch kaum war er an Land gegangen, interessierte er sich nur noch für die üppige, überbordende Pflanzenwelt dort.
«Sollte Gott mir genug Lebenszeit geben, Bartolomeo, dann verfasse ich ein Nachschlagewerk über all die Bäume, die ich dort gesehen habe.»
Ich stand ihm in seinen letzten Stunden bei, so gut ich konnte.
Gott, der seine unerschöpfliche Grausamkeit bisweilen unter Wohlwollen verbirgt, wollte, dass die Krankheit ihn erst dahinraffte, als sein Nachschlagewerk vollendet und der letzte Baum ebenso sorgfältig beschrieben war wie der erste.
Lissabon! Lissabon!…
Sobald Las Casas meine Liebesbekundungen hört, zuckt er mit den Schultern oder verzieht das Gesicht, je nachdem. Meine Liebe zu dieser Stadt geht ihm auf die Nerven.
Als ich ihm wieder einmal von meiner Sehnsucht nach dem so beschaulichen Tejo, nach diesem fortwährenden geschäftigen Treiben nebenan auf dem Terreiro do Paço, nach unserer geliebten Kathedrale, der Sé, und den duftenden Gässchen ringsum erzählte, rief er aus:
«Ja, was macht es denn so… so besonders, Euer Lissabon?»
«Die Inseln!», antwortete ich ihm, ohne zu zögern.
Geben Sie den bequemen Gedanken auf, nur Inseln, die von Wasser umgeben sind, verdienten Aufmerksamkeit und Respekt. Nur jemand, der nie gereist ist oder nie die Augen aufgemacht hat, kann im Ernst bestreiten, dass das Festland ebenso wie das Meer von Inseln übersät ist.
Und so ist Lissabon, mein Lissabon, für sich genommen ein Archipel, das an Vielfalt und Geheimnissen den Azoren oder den Kanarischen Inseln in nichts nachsteht. Jedes Volk, das hier lebt, ist eine Insel. Zur Hauptinsel, jener der alteingesessenen Portugiesen, sind im Laufe der Jahrhunderte andere Inseln hinzugekommen. Die von bewässerten Gärten bedeckte Insel der Araber: Seit Jahrtausenden gilt ihre Leidenschaft dem Wasser, und sie werden nicht müde, seinem Gesang zu lauschen, als führte erins Paradies. Die Insel der Juden, die Mouraria Judiaria, auf der die Mütter ihre Söhne lieben wie nirgendwo sonst, so sehr, dass die besagten Söhne nie Frauen finden, die schön genug für sie sind, und wo die Männer von Kindesbeinen an endlos über unlösbare Fragen disputieren, so ausgiebig, dass die männlichen Hirne darin eine unvergleichliche Wendigkeit erlangen. Die Insel der Venezianer, die immer wirken, als stünden sie auf hohen Pfeilern wie ihre Paläste, so sehr verachten sie den Rest der Welt. Die Insel der Genuesen, die aus allem ein Geschäft machen, wenn möglich mit den Flamen, deren geschickte Ruhe sich immer gewinnbringend mit der mediterranen Hinterlist verbindet. Die Insel der Pisaner, auf der man wieder und wieder Komplotte schmiedet, um die Genuesen zugrunde zu richten. Bescheidener, aber nur was die Größe angeht, ist die Insel der Teutonen: Aus küstenfernen Gegenden kommend, sind sie so überwältigt vom Anblick der See, ihrer wüstenartigen Weite, dass manche verrückt werden, so sehr wurde ihr Geist bis dahin durch die Baumstämme in
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