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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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verdammungswürdigen Dinge, die sich alsbald dort abspielen sollten.
    Armer frommer Mann! Wenn er den Garten der Blinden von dort sehen kann, wo er heute ruht, muss er sich für seine gute Tat unablässig verfluchen.
    Ich war zufällig dort vorbeigekommen. Von dem Schauspiel angezogen, das sich mir bot, kehrte ich häufig zurück.
    Die Blinden gehen hin, um Trost zu suchen für ihr beklagenswertes Los, dass sie die Blumen nicht sehen können. Sie gehen spazieren und atmen tief ein. Ihre Finger streichen über die Blumen. Und das Lächeln, das sich plötzlich auf ihren eingefallenen Gesichtern ausbreitet, ist das Bild des Glücks selbst. Genießerisch nennen sie die Düfte, indem sie die Silben weit auseinanderziehen: «Zitronenkraut», «Anis», «Bohnenkraut». Manchmal streiten sie sich: «Ach, ich liebe den Duft von Engelwurz!» – «Sag bloß, du kannst ihn nicht von Wermut unterscheiden!»
    Ein Hoch auf die Gärtner! Sie hatten den hübschen Einfall, die Pflanzen in erhöhten Trögen zu ziehen. Auf diese Weise den Besuchernasen näher gebracht, verfliegen die Düfte weniger.
    Leider besuchen die meisten Blinden den Ort nur, um dort auf ihr Glück zu warten. Und der einzige Duft, der sie aufmuntert, ist der eines näher kommenden Rocks. Sofern es nicht regnet, müssen sie nicht lange warten.
    Eine Gestalt schlüpft zwischen den Büschen hindurch. Siekommt, geht, wandert hin und her. Die Rufe, die Hände, die sich nach ihr ausstrecken, sie streifen, sie berühren, scheinen an ihr abzuprallen. Die Gestalt spaziert auf dem Markt auf und ab. Plötzlich trifft sie ihre Wahl. Für den Ausbruch von Leidenschaft, der dann folgt, fehlen mir die Worte. Ich kann nur sagen, dass die anderen Düfte sich verlieren. Man riecht nur noch das wilde Aroma zweier Körper. Vielleicht schauen die anderen Gerüche zu wie ich? Die Umarmung dauert nicht lange. Die Gestalt verschwindet. Häufig tauschen die Blinden sich untereinander über das Geschehen aus. Um von diesen Dingen zu sprechen, haben sie keine größere Ausdrucksvielfalt als die Sehenden.
    Auch die Körperausdünstungen verflüchtigen sich nach und nach. Vielleicht wehen sie hinunter zum Tejo, der sie zum Meer trägt.
    Und einer nach dem anderen kommen die Düfte wieder, zuerst der Fenchel, dann der Lorbeer, schließlich der bittere Duft der Orangen. Fast so, als schüttelten sie einen bösen Traum ab. Doch bald zeigt sich eine andere Gestalt. Und alles beginnt von Neuem.
    Hunderte Male bin ich hingegangen, um diese Szene immer wieder zu sehen. Es wäre untertrieben zu sagen, dass mein Bruder für meine wiederholten Besuche in dem Park kein Verständnis hatte. Während den Admiral nur weite Horizonte beschäftigten, habe ich schon meine Vorliebe für alles Kleine offenbart. Ich füge ihr meinen zweifelhaften Hang zum Schauspiel der Intimität hinzu.
    Wieso sollte man sich auch nicht für diese erste Berufung interessieren, die darin besteht zu leben?
    Warum sollte man sich Strategien verschließen, die ein jeder entwickelt, der nicht verzweifeln will?
    Offensichtlich suchten Frauen, die von einem auf Entdeckungsreisen versessenen Seemann verlassen worden waren, bevorzugt Trost bei Blinden. Deren tote Augen würden nie wissen, wer sich ihnen angeboten hat. Ein Mann, der sehen kann, wird sich immer irgendwann dafür rühmen. Ein Blinder aber kann den Übertretungen keinen Namen geben. Ihm kann sich eine Frau in allerSeelenruhe hingeben, ohne befürchten zu müssen, dass Gerüchte ihren Ruf beschädigen.
    Wozu darüber urteilen? Wir sind einander so verwandt und in dieselben Kämpfe verstrickt.
    Aber ich falle auf diese Rechtfertigungen nicht herein. Genug um den heißen Brei geredet. Das Schauspiel meiner kopulierenden Mitbrüder hat mir schon immer gefallen und mir Freuden verschafft, die so gewaltig waren, dass mir die Worte dafür fehlen.

 
    Ich habe Notizen aus dieser Zeit wiedergefunden.
    An manchen Tagen scheinen Regen und Trübsinn gemeinsame Sache zu machen: Sie fallen zusammen auf Lissabon herab. Wer bringt wen mit sich? Löst der Regen den Trübsinn aus? Oder fühlt sich der Trübsinn so allein, dass er den Regen zu seinem Begleiter herbeiruft?
    Dann erreicht der Trübsinn einen Punkt, an dem die Lissabonner ihn nicht mehr aushalten, und die Stadt bringt die einzig wirksame Waffe gegen den Regen in Stellung: die Musik.
    In allen Stadtvierteln, von allen Instrumenten, Glocken, Trommeln, Gamben, Santuren, Psaltern, steigen Melodien in den Himmel.
    Die erste

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