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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Tuch nicht gefiel, das er gewoben hatte, rief er zwei oder drei Angestellte zu sich, je nach Anzahl der Fäden, aus denen das Tuch gewoben war. Jeder zog, wickelte sein Knäuel, und das Tuch löste sich auf.
    So war es auch in Lissabon. Nachts schlief jedes Knäuel getrennt vom anderen. Doch am Morgen wob sich die Stadt wieder aus denselben drei Fäden wie am Vortag.
    Ich fragte den Mann neben mir, welchem Zweck dieses Hin- und Herwandern diene.
    «Oh! Wenn es verhindert, dass man sich gegenseitig umbringt! Es heißt, Lissabon sei die europäische Hauptstadt der Toleranz.»
    «Warum dann jede Nacht dieser Rückzug eines jeden nach Hause zu sich?»
    «Weil in der Nacht die Angst wächst. Und die Angst ist eine schlechte Ratgeberin. Sie verleitet dazu, denjenigen zu töten, der nicht aussieht wie du. Man meint, ein Ungeheuer zu sehen.»
     

    Warum haben die Völker so unterschiedliche Neigungen? Welche Wurzeln, welche himmlischen Einflüsse erklären ihre Vorlieben?
    Meister Andrea traf sich regelmäßig mit Juden, die seiner Meinung nach viel mehr von Karten verstanden als er. Eines Tages fragte ich ihn, wie sie zu dieser Überlegenheit gekommen seien. Er hob die Arme zum Himmel.
    «Bestimmt, weil sie kein Land haben.»
    «Ja und?»
    «Jemand, der keine Heimat hat, ist überall zu Hause. Deshalb gibt es keine besseren Übersetzer, keine besser unterrichteten Kaufleute als sie.»
    «Und ihre Leidenschaft für Karten?»
    «Wer das Wissen liebt, liebt auch Landkarten. Eine Karte ist der sichtbarste Teil des Wissens.»
    «Ist das Wissen ein Land?»
    «Das wohl nicht: Zweifellos verwenden sie so viel Sorgfalt auf ihre Karten, weil sie sich nach einem Land verzehren.»
    «Nach welchem Land?»
    «Nach einem eigenen Land.»
    «Seid Ihr Jude, Meister Andrea?»
     

    Und die Araber? Ich kannte sie nur als Piraten, Seeräuber auf dem Mittelmeer, Spezialisten im Sklavenhandel. Wie kam es, dass sie in einem alle übertrafen, in der Gartenkunst? Ich nutzte oft ihre Dienste für die pflanzlichen Tuschen. Wirklich verblüfft hat mich allerdings eine andere Errungenschaft ihrer Kunst.
    Zu jener Zeit, als Lissabon noch arabisch war, also vor dem 12. Jahrhundert, lebte dort ein steinreicher Kaufmann, dessen einzige Tochter blind zur Welt kam. Was sie nicht sehen konnte, erzählte er ihr. Kann man mit Worten die Leere füllen, die sich vor den Augen auftut? Er setzte alles daran, diese Aufgabe zu erfüllen, verbrachte Stunde um Stunde damit, wie ein pingeliger Notar eine Bestandsaufnahme von allem zu machen, den Tieren, den Pflanzen und den Kindern Gottes, die zu seiner Zeit in der Stadt waren.
    Das Mädchen bedauerte seine sehenden Freundinnen: Welches Vergnügen könnte dem eines nahezu immer anwesenden Vaters gleichkommen, der einem die Welt zum Geschenk machte?
    Doch dann starb dieser Vater und Mittler.
    Über der plötzlichen Stille wurde das Mädchen verrückt.
    Im Bemühen, ihre Geisteskraft wiederherzustellen, hatte ihr Onkel, der Bruder des Verstorbenen, den Einfall zu einem Park für Blinde. Einem Park, in dem es weder auf Perspektiven ankam wie in anderen Gärten noch auf Farbharmonien, sondern auf die Düfte. Er übertrug die Aufgabe an einen Gartenbaumeister. Wie Menschen fassen manche Düfte Zuneigung zueinander, während man andere voneinander fernhalten muss, weil sie sich gegenseitig umbringen.
    Mehr schlecht als recht überdauerte der Park der Blinden die Jahre. Es fand sich immer eine gute Seele, die sich seiner annahm. Nur einmal wäre er fast erstorben, nämlich als es dem Bündnis der Kreuzfahrer im Jahre 1147 gelang, den Muslimen die Stadt zu entreißen. Für die Gärten von Lissabon war es eine schlechte Nachricht. Auf diesem Gebiet ist die Arbeit der Araber unvergleichlich. Vielleicht weil für sie jeder Garten ein neues Kapitel in ihrem Buch, dem heiligen Koran, ist?
     

    Die Geschichte vom Park der Blinden ist noch nicht zu Ende.
    Zu Beginn des letzten, des 15. Jahrhunderts kam ein Abt der Sé an diesem Park vorbei und erkundigte sich, was es mit dem brachliegenden Feld mitten in Lissabon auf sich habe, über das sich Brombeergestrüpp und Hühner hermachten. Durch seine Nachforschungen erfuhr er rasch von dessen früherer Rolle.
    Er staunte darüber, dass Ungläubige einen so wohltätigen Einfall haben konnten. Er sammelte Geld, man ernannte einen Verantwortlichen, und ein neuer Garten entstand, weniger üppig als der alte, heißt es, weniger feinsinnig, was die Düfte anging, doch gut genug für die

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