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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Porto Santo seit seiner letzten Fahrt nicht wegbewegt habe. Im Stillen schimpfte ich mit mir: Ich musste wirklich einen kühlen Kopf bewahren und darauf achten, meinem Bruder keine größeren Kräfte zuzuschreiben, als er besaß.
    Wer zu See fährt, weiß: Über das Meer zu segeln heißt, immer wieder zu rätseln. Den wirklichen Küstenverlauf erfährt man erst nach und nach, um den Preis zahlloser Korrekturen. Wie sahen die Formen genau aus, die sich nach Tagen auf einem leeren Ozean aus dem Wasser erhoben? Ich blinzelte, bemühte mich, Ähnlichkeiten zu finden. Sie glichen einem Sattel, ja, dem gewaltigen Sattel eines Riesenpferds. Nicht verwunderlich: Hatte Cristóbal nicht eine unendlich große Seereise geplant?
    Je näher wir kamen, desto mehr setzte sich die Wirklichkeit durch. Der Sattel war nur ein breites Tal zwischen zwei Gipfelgruppen.
    Und was war dieses lange helle Band? Wozu dieser endlose Strand mitten im Atlantik, wenn nicht zum erneuten Beweis der unerschöpflichen Güte, mit der Gott an die Seeleute dachte? Was könnten sie sich mehr wünschen, nachdem sie tagelang auf See waren, als eine von feinem Sand gesäumte Insel? Ich ließ meinen Blick schweifen. Da ich keine Einbuchtung in der Küste, kein Pierund keine Wellenbrecher sah, erkundigte ich mich, wo sich der Hafen befinde.
    «Braucht es nicht», antwortete der Kapitän. «Es reicht zu ankern. Die Berge schützen uns gegen jegliche Art von Wind. Die ganze Insel dient als Hafen. Und damit nirgends Neid aufkommt, war man so klug, sie nach keinem bestimmten Heiligen zu nennen. Deshalb heißt sie Porto Santo.»
    Mein Bruder erwartete mich. Er trug ein Kind auf dem Arm: Diego, seinen Sohn, den künftigen Gouverneur von Hispaniola und Vizekönig von Indien. Der, dessen Schritte ich direkt über meinem Kopf höre, wenn er im Zimmer kreist, bis eine Entscheidung reif ist, oder wenn er plötzlich mit festem Schritt davongeht, um seine Frau zu beehren.
    Wie man es von mir erwartete, begrüßte ich dieses Kind freundlich und strahlend. Dann speisten wir zusammen mit der Familie. Senhora Moniz-Perestrello wachte als Hausherrin über die Versammelten. Glücklicherweise geruhte sie, so zu tun, als interessierte sie sich für mich, und erkundigte sich nach meinen Geschäften. Denn die übrigen Tischgäste kümmerten sich nur um sich selbst. Ihre Tochter Filipa sah auf meinen Bruder, und zusammen hätschelten sie mit Blicken Ihre Hoheit Diego.
    Dann nahm Cristóbal mich mit, um mir sein Königreich zu zeigen.
    Manche Inseln, mögen sie noch so klein sein – und um diese zu umrunden, hätte es höchstens einen Tag gebraucht –, zeigen dem Meer mit aller Entschiedenheit die kalte Schulter.
    Zwei Hunde bellten einander noch überdrüssig an, ohne ihren alten Streit fortzuführen. Ein Karren rollte heran; lange bevor er in den Blick kam, hörte man das Knirschen der hölzernen Räder auf dem Kiesweg. Eine Frau sang vor sich hin. Ein Kind jagte Vögeln hinterher, als wären sie Diebe. Zahllose winzige Mühlen wachten über zahllose Felder, die aussahen wie blassgelb getönte Betttücher und kaum größer waren. Keine dieser Mühlen drehte sich. Ihre weißen, ausgebreiteten Flügelchen warteten auf Wind.Sie waren alle nach Westen gerichtet, wie die Blumen, die sich nach dem Gang der Sonne ausrichten müssen.
    Bald brach die Nacht an. Nach dem hektischen Treiben in Lissabon wurde einem schwindelig von so viel Ruhe.
    Ich erkundigte mich bei Cristóbal:
    «Wie schaffst du es, alle Tage hier die Zeit totzuschlagen?»
    «Ich kümmere mich um meine Familienangelegenheiten…»
    Seit Genua rechnete ich mit allem bei meinem Bruder, nur nicht damit, dass er Bauer wurde.
    Unerschütterlich fuhr er mit der Beschreibung seiner bäuerlichen Lebensweise fort:
    «Ich lerne Roggen anzubauen. Die Pferde sind wild danach. Um ihre Reiterei satt zu bekommen, zahlen uns unsere Generäle einen guten Preis. Und mit jedem Tag lerne ich den Drachenbaum besser kennen. Wusstest du, dass der Saft dieses Baums blutrot ist und dass er deshalb bei flämischen Färbereien sehr gesucht ist?»
    «Wie lange willst du in dieser Wüste bleiben?»
    «Mein Ältester ist gerade geboren. Ich möchte, dass er dem Westen angehört. Porto Santo ist sein erstes Schiff.»
    Dreimal versuchte ich, ihn an den Grund meines Besuchs zu erinnern, an diese
Ymago,
die er bestellt hatte und die ich ihm von einer langen Reise mitbrachte.
    Weit davon entfernt, sich zu bedanken, wie ich gehofft hatte, weit davon entfernt,

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