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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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er sich an Filipa wandte, hörte ich die Stimme meines Bruders, und jedes Mal fragte ich mich: Wer redet da? Gewiss nicht er, der doch stets nur anklagen, nur angreifen und die Geduld verlieren konnte. Wem mochte dieser fast schüchterne Ton gehören, diese langsame Sprechweise, diese Worte, die so gewählt wurden, dass sie nicht verletzten?
    Verdutzt bemerkte ich die Aufmerksamkeit, die Beachtung, die er noch den unwichtigsten Äußerungen seiner Frau schenkte, und die unmittelbaren Konsequenzen, die er daraus zog, während das Urteil aller anderen Menschen sein Hirn nur erreichte, wenn es mit seinen feststehenden Überzeugungen übereinstimmte.
    Und ich erlebte, wie er, der Fürst der Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nicht seinem Vorhaben diente, sich um sie sorgte; ich sah, wie er ihr eine Wolldecke brachte, weil es Abend und kühl wurde.
    Und sie, sie sorgte sich ständig um ihn, zum Beispiel, wenn er zu lange über seinen Rechnungsbüchern gesessen hatte.
    «Wozu quälst du deinen Leib so sehr? Warum willst du dem Erblinden Vorschub leisten? Meinst du, du könntest Kapitän bleiben, wenn du das Augenlicht verlierst?»
    Und als er ihr recht gab, aber weiter über seinen Rechnungen sitzen blieb, durchstreifte sie die ganze Insel, um Kamille zu suchen, die einzige Pflanze, die die Augen beruhigt.
    Ich hörte, wie er sie beruhigte, wenn Sturm war, er legte denArm um ihre Schultern, er schwor, dass sich der Wind bald wieder legen würde, dass die Insel solange fest verankert sei, er schwor beim heiligen Augustinus, beim heiligen Peter, beim heiligen Paul und allen anderen Heiligen, dass sie sich nie und nimmer losmachen und abdriften würde. Und bis zum Morgen erzählte er ihr Geschichten vom Festland.
    Ich hörte sie, wie sie ihn an windstillen Tagen beruhigte, wenn die Insel auf einem endlosen Spiegel zu liegen schien und sich nichts in der Schöpfung mehr bewegte, weder die Wolken noch das Gras oder die Vögel. Sie räumte ein, dass ohne Wind keine Seefahrt möglich sei, gewiss, doch sofort schwor sie bei der heiligen Martha und der heiligen Magdalena, bei allen heiligen Frauen, dass der Wind noch nie, seit der Erschaffung der Welt nicht und auch zu keiner Zeit davor, endgültig verschwunden sei. Es liege in der Natur des Windes, eines Tages wiederzukehren.
    Ich sah beide durch starken Regen stapfen, ohne dass man wusste, wer sich bei wem einhängte, er war der Kräftigere, aber sie beweglicher, geschickter beim Vorwärtstasten auf dem rutschigen Weg.
    Ob ich es erhoffte oder befürchtete, war mir nicht klar, doch ich dachte, dass diese Liebe, diese schöne, reiche und sanfte Eintracht letztlich das Ende des Unternehmens Indien bedeutete.
    Wozu einen neuen Seeweg nach Indien suchen, wenn man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und jede Nacht die Liebe in sich trägt, das heißt alle Länder vereint?
    Doch Filipa war nicht die Frau, die Träume zunichtemachte. Im Gegensatz zu ihrer Mutter musste sie auch nicht Rache üben für die Familie. Ihre Unterstützung für das Unternehmen Indien hatte eine friedvollere und stärkere Quelle, denn sie beruhte allein auf der Logik.
    Fasziniert von der Energie, die sie trotz ihrer zarten Gesundheit entfaltete, um meinem Bruder eine Hilfe zu sein, fragte ich sie, warum sie sich so sehr für ihn einsetze.
    Sie lächelte.
    «Muss ich darauf wirklich antworten? Es ist ganz einfach! Du bist offenbar nicht so schlau, wie ich dachte… Ich liebe deinen Bruder. Dein Bruder
ist
dieses Unternehmen. Also liebe ich dieses Unternehmen. Lass ihm nur Zeit. Du siehst ja, dass er im Augenblick seinen Ehrgeiz bremst. Er wartet nur, bis sein Sohn groß genug ist, ihn zu begleiten.»
    Kaum geboren, war Diego in das Unternehmen Indien einbezogen worden. Jeden Tag, egal bei welchem Wetter, und manchmal sogar nachts nahm Cristóbal ihn mit auf Spaziergänge, damit er von ihm lernte: die Bewegungen der See, die Sprache der Wolken, den Einfluss der Sterne, wie man Krebse fängt und wie man Segel ausrichtet.
    Diego, der noch kein Jahr alt war, schien diese Lektionen sehr zu genießen und brabbelte unentwegt.
    Es waren nicht die Antworten, die sein Lehrer von ihm erwartete. Dieser wurde ungeduldig. Hob den Ton. Übergab den schlechten Schüler wieder seiner Mutter.
    «Dieses Kind ist zu dumm!»
    «Dieses Kind ist noch ein Kind», gab Filipa sanft zurück.
    «Kinder sind zu langsam.»
    «Kinder gehen ihren Weg.»
    «Man sollte ihnen Beine machen!»
    Ein anderes Ärgernis für Cristóbal lag in

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