Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
der Größe unserer Familie.
«Bartolomeo, wir sind zu wenige!»
«Warum sollen wir mehr werden?»
«Nur die großen Familien haben Einfluss. Sieh dir die Grimaldis, die Spinolas an: Wann beabsichtigst du zu heiraten und Kinder zu bekommen?»
«Ich habe bisher keine passende Frau gefunden.»
«Du meinst wohl eher, du hast zu viele gefunden.»
«Und was ist mit dir? Erwartet denn deine Filipa wieder eines?»
«Leider nicht. Ihr Bauch muss erst wieder zu Kräften kommen.»
In diesem Familienidyll hatte ich keinen Platz mehr und auch nichts zu tun auf der Insel.
Ich ließ die
Ymago
zurück und nahm ohne Bedauern das nächste Schiff nach Lissabon.
Bei meiner Rückkehr erwartete mich ein Drama. Oder vielmehr ein Untergang.
Ich sagte bereits: In Lissabon wehte damals der starke Wind der Freiheit. Das war zwar richtig, aber diese Freiheit hatte einen Meister: das Geheimnis.
Hör gut zu, Las Casas, da dich die Neugier auf die Folter spannt wie mich.
Das Wissen ruht nicht, bis sein Licht der ganzen Welt zugutekommt. Das Wissen ist die reinste Großzügigkeit, das Geheimnis dagegen ist geizig und eifersüchtig. Es behält für sich, kassiert ein, hortet.
Beide vertragen sich nicht. Sie sind verdammt, einander zu zerreißen. Und dennoch haben Generationen portugiesischer Könige in ihrer Weisheit die Schlüssel des Königreichs dem Bündnis zwischen diesen beiden, dem offenen und dem geheimen Wissen, anvertraut.
Das Ergebnis waren ständige und heftige Auseinandersetzungen und überaus erfolgreiche Entdeckungsreisen.
Um sich Wissen zu verschaffen, empfing Lissabon Menschen aller Völker und Berufsstände mit offenen Armen, denen daran lag – oder die dazu gezwungen waren – zu lernen: Die Stadt war offen für Juden, Kaufleute, Kartographen, Mathematiker, Buchhändler,Seeleute, Schiffsbauer, Kosmographen, Späher, Übersetzer…
Um das Wissen geheim zu halten, wurde den Wissenden ausdrücklich verboten, von ihren Erkenntnissen irgendjemandem irgendetwas mitzuteilen außer den Notaren der Krone.
Die
Sigila,
das geheime Wissen, ist auch ein Siegel, das Zeichen des Eigentums, und das Schloss, das es sichert.
Keine Macht, keine Krankheit hat mehr Menschenleben verzehrt als der Wissensdurst. Das Geheimnis hat sich, zumindest im winzigen Königreich Portugal, mit den Ohren begnügt.
Warum schnitt man Schwätzern die Ohren ab, anstatt ihnen die Augen auszureißen? Ich habe darüber nachgedacht und zwei Antworten gefunden.
Entweder glaubten die Könige, man erfahre mehr vom Zuhören als vom Sehen. War nicht Homer, der Verfasser des ersten Reiseberichts, blind, ebenso wie Anchises, der Vater von Aeneas, der ihn trotz seiner Blindheit von Troja bis nach Rom führte?
Oder sie sahen das Auge als ein Geschenk Gottes an, das folglich unveräußerlich war, während das Ohr ein Werkzeug und Mittler des Teufels war.
Um 1480 setzte in Lissabon ein merklicher Verlust von Ohren ein. Plötzlich fielen sie von den Schädeln wie Herbstblätter von den Bäumen. Bis dahin behielten die Portugiesen sie schön bei sich, und jene, die sie bei Unfällen oder Schlachten verloren hatten, verbargen die hässliche Leerstelle unter so viel Haar wie möglich.
Ein einziger Lissabonner stellte seine Wunde mit Stolz zur Schau: ein Hidalgo, von dem jeder wusste, dass ihn seine Geliebte zu heftig gebissen hatte. Er präsentierte diese dunkelrosafarbene Körperöffnung allen Blicken wie eine Auszeichnung, die er auf dem Schlachtfeld der Liebe errungen hatte. Mochten manche Frauen sich angewidert abwenden, andere berührten sie, nachdem sie sich endlos geziert hatten, mit der Hand und ließen sich schließlich umarmen.
Die heitere Stimmung fand ein Ende, als die gesamte Zunft der Kartographen auf die Praça do Comércio bestellt wurde. Zwei französische Kaufleute warteten dort in Ketten. Eine Menschenmenge umringte die beiden, beschimpfte sie teils oder verhöhnte sie wegen ihrer Angst und vor allem wegen ihrer kahl geschorenen Köpfe. Einem der beiden fehlte bereits ein Ohr. Hinter zwei Trommlern und einer Eskorte von Soldaten erschien der Richter, erkennbar an seiner Robe, die er anhob, wie Frauen es tun, um nicht den Dreck zusammenzukehren, der auf dem Pflaster herumlag.
Der Richter stieg auf das Podest. Man stieß den ersten, an allen Gliedern zitternden Kaufmann vor ihn. Stille trat ein, damit der Urteilsspruch zu hören und auszukosten war. Herr Bouanik], in Haft genommen am 3. Juni 1480 vor der Kirche Santa
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