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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Verantwortung trug: Ist dir nicht kalt,
Ymago?
Was für Dummköpfe, diese Soldaten! Du verpasst nichts, wenn du nichts siehst, die Landschaft ist langweilig.
    Es war mir so nahe, dass ich seine beinahe menschliche Gegenwart vermisste, als ich meinem Bruder das Buch übergab, das mir zum Freund geworden war. Lange musste ich meine Zunge hüten, damit sie aufhörte, Worte an das Buch zu richten.

 
     
     
     
    Vielleicht erleichtert die Seefahrt das Denken oder vielmehr das Nachdenken wegen der ständigen Bewegung des Schiffes, vielleicht auch wegen der Leere ringsum.
    Während ich auf die Insel Porto Santo zusteuerte, wo mein Bruder fortan lebte, dachte ich über den Mann nach, der sie als Erster auf einer Karte verzeichnet hatte: den Juden Abraham Cresques, den Schöpfer des Katalanischen Weltatlas. Ich dachte an den Seefahrer, der ihn beraten hatte: Welche Abenteuer, welche Meeres- und Windströmungen, welche Regungen der Seele hatten ihn gedrängt, so weit nach Westen vorzustoßen? Ich dachte an jene Völker, Phönizier, Juden, Beduinen, die bestimmte Routen in sich tragen. Ich dachte an die Insel Mallorca, die dank der Juden einst das Alexandria der Geographie gewesen war, ein Tempel des Wissens über Karten. Ich träumte nach wie vor und immer wieder von Inseln, wie sie auftauchten und verschwanden.
    Der Wind blies gleichmäßig und mild, die Mannschaft musste nicht gegensteuern. Zum Zeitvertreib, vielleicht auch um böses Schicksal abzuwenden, begann man über Stürme zu sprechen. Jeder erzählte von den Schrecken, die gewöhnlich mit ihnen einhergehen, und wie viel Glück er gehabt hatte zu überleben.
    Da ich bis dahin geschwiegen hatte und alle von meiner großen seemännischen Erfahrung wussten, wollte man meine Meinung dazu hören. Ich zögerte, damit herauszurücken, so wenig beliebt war sie unter Seeleuten, so viele Unannehmlichkeiten konnte siemir bereiten. Doch man ließ nicht locker. Ich erklärte also, dass die Stürme notwendig seien und, mehr noch, ein Beweis dafür, dass Gott die menschliche Gattung zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber Seiner Schöpfung bringen wolle.
    Ungerührt vom Murren, mit dem man meine Rede aufnahm, fuhr ich fort.
    Wie überwand Kapitän Gil Eanes Kap Bojador, das Kap der Angst, wie man es nannte, jene Grenze im nördlichen Afrika, über die sich niemand hinauswagte? Im Sturm. Es hatte ihn weit nach Westen verschlagen. Als sich der Sturm gelegt hatte, stellte er fest, dass die so gefürchtete Grenze hinter ihm lag und das Schiff weder in einen Abgrund gestürzt war noch in der Hölle brannte.
    Noch ein Beispiel: Wie hat Kapitän Zarco, als er 1419 langsam die Goldküste hinaufsegelte, die Insel Porto Santo entdeckt, zu der wir unterwegs waren? Wieder in einem Sturm, der ihn von der Route entlang der Küste des Königreichs Marokko abgebracht hatte.
    Was folgt daraus? Stürme sind die besten Feinde unserer Bequemlichkeit, die Verbündeten dieses edlen Fiebers, das man Neugier nennt. Sie reißen uns über unsere üblichen Routen hinaus mit sich, sie zwingen uns, aus uns selbst hinauszugehen. Indem ich meinem Hang nachgab, den Philosophen zu spielen, fügte ich hinzu, dass wir es im Leben auf dem Festland ebenso mit Stürmen aufnehmen müssten: Trauerfällen, Verrat, Krankheiten. Aus solchen Stürmen gehen wir entweder tot oder reicher an Erkenntnis hervor.
    Wie vermutet, wäre ich fast gelyncht oder über Bord geworfen worden. Ich verdanke mein Heil nur dem geschickten Ablenkungsmanöver Kapitän Esuns: Eine doppelte Ration Rum für den, der Porto Santo als Erster sichtet!
    Doch die Tage vergingen, und unser Ziel kam immer noch nicht in Sicht. Ich verfiel auf die Idee, dies sei ein neuer Zauber meines Bruders. Vergesst nicht: Seit seiner Ankunft in Lissabon durfteich mich, um seine Fahrt vorzubereiten, um die Inseln kümmern. Ich hatte zum Schluss viel Wissen über diese merkwürdigen geographischen Lebewesen erworben. Es gibt feste und es gibt umherirrende Inseln. Nach Dionysius von Alexandria kommt das Phänomen des Driftens bei Inseln häufig vor. Ihre Oberfläche ist in diesem Fall nicht mit dem Sockel der Erde verbunden; von Winden oder anderen Naturgewalten getrieben, schwimmen sie umher.
    Cristóbal musste eine schwimmende Insel zum Familiensitz gewählt haben, noch dazu eine, die zwangsläufig nach Westen driftete. Seine große Seereise würde umso kürzer sein.
    Endlich tauchten Kuppen am Horizont auf. Und der Kapitän wies mich etwas spöttisch darauf hin, dass sich

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