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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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zurückkehren können. Warum zögerte ich meine Abreise Tag für Tag hinaus?
    In manchen Stunden zögert das Dasein: Neben dem vorgesehenen Weg tut sich ein anderer auf. Wie Liebe kann auch Freundschaft Schicksale ins Wanken bringen. Johannes van Westfalenschlug mir vor, mich bei ihm niederzulassen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Einen Teil seines Geschäfts würde ich ja bereits kennen, argumentierte er; ich hätte alles, was man brauche, um darin ein Meister zu werden, Geduld und Sorgfalt, Lust am Lernen und am Weitergeben; und dieser Beruf habe für Menschen von meinem Naturell, die neugierig sind auf alles, den unschätzbaren Vorteil, dass man es mit sämtlichen Wissensgebieten zu tun bekomme, ohne sich auf eines beschränken zu müssen: Ihr werdet sehen, sobald ein Buch fertig ist, begeistert man sich sogleich und ebenso sehr für ein anderes Gebiet; zur Mehrung der menschlichen Erkenntnis taugen Bücher ebenso viel wie Schiffe, Lesen ebenso viel wie Reisen; vor allem aber nehme hier, im Süden der Niederlande, eine große Bewegung der Verstandeskraft ihren Ausgang, und wenn ich noch einige Wochen bliebe, könne er mich mit einigen Philosophen aus seiner Umgebung bekannt machen; sie sprächen über die Freiheit und böten der menschlichen Gattung atemberaubende Aussichten…
    Ich schwankte eine ganze Woche lang.
    Von diesem Schwanken hat Cristóbal nie erfahren. Hätte ich es ihm erzählt, er hätte nicht zugehört und noch weniger verstanden. Ihn beschäftigte nur der Westen.
    Warum entschloss ich mich letztendlich dazu, am Lauf meines Lebens nichts zu ändern?
    Alles Bedauern nützt nichts.
    Wir sind aus Wasser gemacht. Und wie Wasser folgen wir dem steilsten Gefälle.

 
     
     
     
    Nie hat eine lebende Person so viel Nähe und Intimität mit mir geteilt wie die
Ymago mundi
während meiner gesamten Rückreise. Wie zwei verliebte Eheleute trennten wir uns nicht mehr, wir schliefen, aßen, wanderten zusammen, wir klebten aneinander, Haut an Haut, meine menschliche Haut am Kalbsleder des hellen, von goldenen Lettern überzogenen Einbands.
    Anfangs schützte mich die Kälte. Niemand wunderte sich, einen Reisenden in einem schweren Mantel zu sehen, und wer hätte ahnen können, dass er unter diesem schweren Mantel einen Schatz verbarg?
    Weiter im Süden, bei der Stadt Poitiers, kam mir die Lüge zur Hilfe. Ich mischte mich unter eine Pilgergruppe und erklärte, ich sei wie sie auf dem Weg nach Santiago.
    «Was ist das für ein Buch, das du am Herzen trägst?», fragte einer von ihnen. «Es sieht sehr wertvoll aus.»
    «Weißt du, das ist ein Werk des Kardinals Pierre d’Ailly.»
    «Wovon handelt es?»
    «Von den Schismen der Kirche. Streitgespräche unter Theologen.»
    «Es gibt nur einen Gott, oder? Weshalb sich dann das Leben schwer machen?»
    Und er stimmte ein
Veni Creator
an, mit einer Donnerstimme, die alle Vipern der Umgebung in die Flucht schlug.
    Wie so oft in meinem Leben war es die Sünde der Neugier, die mich beinahe ins Verderben geführt hätte.
    Meine Mitpilger hatten mich einen Tag lang verlassen. Sie hatten einen Umweg gemacht, um die Reliquien irgendeines Heiligen zu besuchen. Unter dem Vorwand einer Entzündung am Fuß hatte ich mich dafür entschuldigt, dass ich lieber bleiben und auf ihre Rückkehr warten wollte.
    Doch kaum war der Rücken des letzten hinter der Haselhecke verschwunden, machte ich mich über die
Ymago
her. Bis dahin hatte ich noch nie die Muße gefunden, längere Zeit ungestört darin zu lesen.
    Mit einem raschen Blick in die Runde stellte ich fest, dass kein Lebewesen in der Nähe im Verdacht stand, sich für die Kosmographie zu interessieren, weder die beiden Lerchen, die direkt über mir auf dem Wacholderstrauch zwitscherten, noch die Kühe weiter hinten auf dem Feld und schon gar nicht die Regenwürmer, die unter der Wiese wirkten, oder die Krebse, die im Bach faulenzten. Ich begann in den Seiten zu blättern.
    Rechts vom Berg Imaus, wo der Kaukasus endet, befindet sich das Vorgebirge von Samara… Hier in Persien hat die Zauberei ihren Ursprung. Hierher kam der Riese Nembroth nach der Verwirrung der Sprachen und lehrte die Perser den Gebrauch des Feuers…
    Eins stand fest: Auf den Seiten eines Buches reiste man ebenso gut wie auf einem Schiff, und zwar ohne Seekrankheit und Skorbut.
    Ich hatte mich in das zweite Kapitel vertieft, das von «Kreisen und anderen üblichen Aufteilungen des Himmels» handelt, als mir plötzlich Licht fehlte. Bestimmt hatte irgendeine Wolke

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