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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Genoveva wegen des Besitzes einer Seekarte der Gewässer vor Kap Bojador, von der er hätte wissen können, dass sie das ausschließliche Eigentum Seiner Majestät, König Alphons’ des V., und nur diesem vorbehalten war, wurde des Diebstahls und der Majestätsbeleidigung für schuldig befunden und deshalb verurteilt…
    Der Richter blickte von seinem Pergament auf, um den Schuldigen zu mustern und das Interesse der Zuschauer wieder zu wecken.
    «… das rechte Ohr abgeschnitten zu bekommen.»
    Beifall brandete auf, während man den anderen Kaufmann vor den Richter zerrte.
    Aus demselben Grund sollte Herr Legonidec sein zweites und letztes Ohr verlieren, eine Strafverschärfung wegen der Rückfälligkeit, die man aus dem Fehlen des linken Ohrs geschlossen hatte, nicht ohne ihn zu warnen, dass er beim nächsten Vergehen gegen das im Königreich geltende Gesetz über das Kartenmonopol auf ebendiesem Platz am Strick enden würde.
    Die Erklärung wurde abermals mit Beifall aufgenommen, der sich in ein Glucksen und Schaudern verwandelte, als ein maskierter Riese, der aus dem Nichts aufgetaucht war, das Podest erklomm,ein langes Messer aus seiner Tasche zog und auf die Verurteilten zuschritt.
    Durch eine seltsame Verkehrung der menschlichen Natur hatte ausgerechnet derjenige am meisten Angst, dem ein Ohr erhalten bleiben sollte. Er ächzte, flehte, nässte sich sogar ein. Vergebliche Mühe. Bald spritzte das Blut aus der rechten Seite seines Kopfes, und der Henker schwenkte das Ohr.
    Die Menge forderte unter großem Geschrei und mit emporgereckten Armen, dass man es ihr zuwarf. In hellem Aufruhr drückte sie gegen die Absperrung der Soldaten. Erst als es darum ging, von der zweiten Bestrafung nichts zu verpassen, hörte das Gedränge auf. Der betroffene Bretone bat um das Wort. Obwohl man es ihm verweigerte, gelang es ihm zu erklären, dass die Küsten nur denjenigen gehörten, die sich aufs Meer hinausgewagt hätten. Dann pflanzte er sich auf beiden Beinen auf, streckte sich, musterte die Zuschauer und verlor, ohne zu zittern, sein letztes Ohr.
    Was wurde aus diesen beiden Ohren und den Dutzenden anderen, die jenen auf dieselbe Weise genommen wurden, die die
Sigila
nicht achteten?
    Hat man sie verbrannt, beerdigt oder den Hunden vorgeworfen oder vielleicht einbalsamiert und in den Archiven aufbewahrt? So wie ich Portugal kenne und seine Vorliebe, Spuren zu hinterlassen, neige ich zur letzteren Annahme; beschwören kann ich es jedoch nicht.
    Ich habe mich oft gefragt, warum in Lissabon zu jeder Tag- und Nachtzeit so viel Musik zu hören war. Vielleicht wollte Gott in seiner unendlichen Fürsorge all diesen verlassenen Ohren ein wenig Trost spenden?
    Am nächsten und den folgenden Tagen stattete ein Edelmann aus dem Palast jeder einzelnen kartographischen Werkstatt in der Stadt einen Besuch ab. Da deren Anzahl damals 152 betrug, benötigte er dafür gut zwei Monate. Er stellte sich vor als Rechtskundiger und Sprecher Seiner Majestät in allen Fragen, die mitder Seefahrt zu tun hatten. Eine Eskorte begleitete ihn, und um seiner Deklaration einen feierlichen Anstrich zu verleihen, ging ein Trommler voraus.
    «Aus väterlicher Liebe zu seinen Untertanen hat der König, der ihnen überaus zugetan ist, in seiner Gnade die Augen vor der Herkunft der beiden Karten verschlossen, die von den beiden verbrecherischen Kaufleuten Legonidec und Bouanic verwendet wurden. Seine Geduld ist nunmehr aufgebraucht. Er warnt die Zunft der Kartographen, dass jede Überlassung von zur Seefahrt nach Afrika tauglichen Dokumenten an Seefahrer, die nicht von der Krone zugelassen sind, künftig daselbst mit dem Verlust eines Ohrs bestraft wird.»
    Nach dieser königlichen Warnung kehrte in unserer Zunft zwar für ein Jahr Vernunft ein, doch dann trat Pedrinho, unser Nachbar vom Ende des Kais, eines Morgens mit einem Turban um den Kopf aus dem Haus. Alle taten so, als glaubten sie seine Geschichte: Demnach hatte ihm ein vom Baum herabfallender Pinienast die Hälfte der Kopfhaut weggerissen. Da allerdings insgeheim jeder an der Bestrafung teilgenommen hatte, wussten alle, dass der angebliche Ast der Dolch des Henkers und der Grund für Pedrinhos Verurteilung der Verkauf einer Sammlung mit Ankerplätzen im Archipel der Kanarischen Inseln an einen Pisaner gewesen war.
    Seine Zunftbrüder besuchten ihn einer nach dem anderen, um ihm ihr Mitgefühl und ihre Sympathie auszusprechen, doch insgeheim nannten sie ihn einen Idioten. Sie würden sich nie erwischen

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