Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Tatsachen, und nur zwei, konnten zum Hindernis werden.
Eine übermäßige Hitze, die bestimmte Gegenden der Erde unüberwindbar machen würde. In dieser Hinsicht hatte Pierre d’Ailly uns beruhigt: Überall auf unserem Globus war Leben möglich, und die Meere waren überall schiffbar.
Zweitens der Ozean zwischen Europa und Indien, der zu groß sein und jede Überfahrt unmöglich machen könnte. Die
Ymago
behauptete jedoch, die Seereise sei «in wenigen Tagen» möglich.
Cristóbals Blick war der leuchtende Blick eines Gefangenen,der die Tür zu seinem Kerker aufgehen sieht. Unermüdlich wiederholte er den lateinischen Ausdruck: «paucis diebus», «paucis diebus».
Bestimmt war es an diesem Tag, in diesem Augenblick, dass sich sein Traum in einen Entschluss verwandelt hat.
Wir fuhren mit der Lektüre fort – die
Ymago
ist kein schmaler Band, sie behandelt den ganzen Planeten. Cristóbal schrieb die Ränder mit seinen Notizen voll. Doch unsere Gedanken waren woanders. Wir hatten schon Segel gesetzt.
Damit es Diego nicht langweilig wurde und ihm die Beine nicht einschliefen, unterbrach Cristóbal ab und zu die Lektüre und ging mit ihm davon. Ihr liebstes Ziel war das Dorf Cascais, wo man weit aufs Meer hinausblicken kann. Sie ritten auf demselben Maultier dorthin, der Sohn sicher im Sattel vor seinem Vater.
Da ich sie nicht begleitete, spitzte ich die Ohren. Ich belauschte diesen unglaublichen Dialog.
«Diego, erkläre mir, was der Zoll ist. Wie erstellt man einen Finanzplan, Diego?»
«Meint Ihr nicht, Vater, dass ich noch zu jung bin, um das alles zu lernen?»
«Im Gegenteil. Ich habe zu spät damit angefangen. Auf der Schiffsroute, die ich nach Westen auftue, werde ich neue Ländereien entdecken. Du erhältst von mir die Aufgabe, sie zu verwalten.»
«Was heißt , Vater?»
«Siehst du, wir dürfen keine Zeit verlieren. Dir fehlt noch viel, viel Wissen.»
«Besitzt Ihr diese Ländereien noch nicht?»
«Du weißt doch, wir haben nur Porto Santo.»
«Wann werdet Ihr sie besitzen?»
«Wenn ich sie entdeckt habe und der König sie mir übertragen hat.»
«Glaubst du, dass Mama auf einer dieser Ländereien weiterlebt?»
«Das kann ich nicht beschwören.»
«Dann fahren wir weiter, und irgendwann finden wir sie.»
«Das verspreche ich dir: Solange ich Kraft genug habe, werden wir nie aufhören zu entdecken.»
«Vater, wie lange dauert es bis zu den Entdeckungen?»
«So lange, wie du brauchst, dich vorzubereiten.»
Und mein Bruder fuhr mit dem Abfragen fort:
«Diego, was ist ein Kataster? Nenne mir den Unterschied zwischen hoher und niederer Gerichtsbarkeit.»
Während es sich bemühte, eine Antwort zu finden, schaute sich das arme Kind hilfesuchend nach jemandem um, der es erlösen könnte. Doch es gab niemanden auf der Welt. Seine Mutter war die einzige Person gewesen, die imstande gewesen war, seinen Vater in seinem Belehrungswahn zu bremsen.
Von alldem hat Fernando, Cristóbals zweiter Sohn und Diegos Bruder, nie erzählt, obwohl er der offizielle Biograph ist. Wie konnte er es hinnehmen, dass sein Vater dem älteren Bruder mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm?
Statt zu spotten über Cristóbal und seine verbissene Art, Diego zu belehren, hätte ich besser daran getan, seinen Lektionen aufmerksam zuzuhören. Vielleicht wäre meine Regierungszeit auf Hispaniola dann weniger verheerend gewesen?
Cristóbal hatte bei seiner Rückkehr nicht nur seinen Kummer mitgebracht. Außer seinem Sohn begleitete ihn eine Geschichte. Er brauchte lange, bis er mir diese Geschichte erzählen konnte. Er kündigte sie an, versprach sie mir, begann zu erzählen und unterbrach sich.
Schließlich wagte er es:
«Es war eines Abends auf Madeira. Von Osten wehten starke Böen, es war stürmisch. Ich war hinausgegangen, um die Wellen zu betrachten. Wie gewöhnlich glaubte ich mich allein auf der Welt. Ich hörte, wie hinter mir jemand vorbeiging. Ich schreckte auf und drehte mich um.
Ich lud ihn ein, wozu man alle Seeleute einlädt: in die nächste Schenke zu gehen, damit er bei einem, zwei, schließlich drei Gläsern Wein seine ruhmreichen und schrecklichen Abenteuer erzählt. Der Steuermann lehnte ab. Er mochte den Lärm nicht. Er wollte lieber umherwandern. So überbrachte er mir also im Gehen die Nachricht. Jenseits des Ozeans, gen Westen, gab es Länder, deren Bewohner nackt waren. Ich bedrängte ihn mit
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