1412 - Die Hellseherin
Der Geistliche schüttelte den Kopf. Wie jemand, der ein bestimmtes Bild vertreiben will. Dass er zugleich blass geworden war, fiel ihm nicht auf, dafür dem Paten, der das Kind hielt. Es war ein schon älterer Mann, der in seinem dunklen Anzug schwitzte. Auf seiner Oberlippe lag ebenfalls ein Film.
»He, was haben Sie?«, flüsterte der Pate. »Warum machen Sie nicht weiter?«
Der Pfarrer schluckte. »Ich… ich weiß nicht. Ich habe … ich … ich meine … mein Gott, Sie haben Recht.«
»Eben. Ich bekomme schon steife Arme.« Der Pate ruckte das kleine Mädchen höher. »Los, kippen Sie schon das Wasser über ihren Kopf.«
»Natürlich.« Die Hand, die das Gefäß hielt, zitterte. Noch zögerte der Kirchenmann. Er schielte nach links, wo die Bänke standen und sich die Gäste versammelt hatten. Zwei Bankreihen reichten aus, um sie aufzunehmen. Alle Blicke waren nach vorn gerichtet. Gespannt warteten die Kirchenbesucher ab.
Einen zweiten Taufpaten gab es nicht. Einer musste reichen, und der verdrehte die Augen.
Der Pfarrer verstand. »Schon gut«, flüsterte er, »ich werde mich beeilen. Sie brauchen nichts mehr zu sagen.«
»Gut.«
Den Taufspruch wollte der Geistliche nicht noch mal wiederholen.
Er hatte alles getan. Und er wollte auch nicht mehr daran denken, mit welch einem Blick er angeschaut worden war.
Er konzentrierte sich wieder auf den Täufling. Das Gesicht sah jetzt normal aus. Ein Irrtum, dachte der Pfarrer. Ich kann mich auch geirrt haben. Die Kleine Anna Lebrun ist völlig normal. Nichts kann hier passieren. Die Taufe ist ein Sakrament, eine heilige Handlung, und alles andere habe ich mir eingebildet.
Sein Lächeln wirkte verzerrt, als er die Kanne mit dem Taufwasser senkte. Die Augenlider flatterten schon, und er war beruhigt, als er sah, wie das Wasser floss.
»Bald wirst du tot sein, Pfaffe!«
Die Stimme! Furchtbar! Der Pfarrer zuckte zusammen. Er goss einen Teil des Wassers neben den Kopf, aber das meiste traf schon.
Es ergoss sich über den Kopf des Kindes, und dann geschah etwas, das den Pfarrer an den Rand des Verstands brachte.
Er hatte in das Gesicht des kleinen Mädchens geschaut, und das zeigte plötzlich eine Veränderung. War es noch rosig gewesen mit etwas aufgeplusterten Wangen, so veränderte sich das innerhalb kürzester Zeit. Es alterte. Es bekam Falten, die Haut zeigte plötzlich eine graue aschige Farbe.
Ein Schrei!
Nicht das Kind hatte ihn ausgestoßen, sondern der Pfarrer. Er riss seinen Mund weit auf, er wankte zurück. Sein Gesicht war durch das erlebte Entsetzen gezeichnet. Die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Aus dem zur Hälfte geöffneten Mund drangen krächzende Laute, und er hatte den Blick für die Realität verloren.
Er wich zurück.
Da war die Treppe. Die beiden Stufen, die beide Kanten hatten. Er vertrat sich, verlor das Gleichgewicht, konnte nur noch mit den Armen rudern, um nach einem Halt zu suchen. Den fand er nicht. Die zuckenden Finger griffen ins Leere, und so fiel er nach hinten. Da gab es nichts, was ihn aufhielt. So knallte er mit dem Hinterkopf auf den harten Steinboden.
Dabei entstand ein furchtbares Geräusch, das den anwesenden Menschen durch Mark und Bein ging.
Niemand rührte sich. Der Schock hielt die Taufgäste in seinem Griff. Und doch gab es eine Reaktion.
Ein Geräusch wie ein Lachen. Hässlich allerdings und auf eine gewisse Art und Weise schadenfroh.
Kein Erwachsener hatte das Lachen ausgestoßen. Es war einfach nur der Täufling gewesen, aber das Gelächter hörte sich an, wie vom Teufel persönlich geschickt.
Dies alles geschah vor mehr als vierzig Jahren…
***
»Ich werde allein gehen!«
Mehr hatte Harry Stahl nicht gesagt. Er wollte die Lage zunächst checken. Die Männer vom SEK – dem Sondereinsatz-Kommando – sollten im Hintergrund bleiben.
Das Gelände war unübersichtlich. Kilometerweit von der nächsten Ortschaft entfernt. Niederwald und freie Flächen wechselten sich ab oder gingen ineinander über. Und inmitten dieser natürlichen Gegend stand das Ziel, eine Blockhütte, die irgendjemand mal vor Jahren gebaut hatte.
Jetzt war sie Harry Stahls Ziel. Ob er einen Erfolg haben würde, wusste er nicht, aber es war die letzte Chance, die er hatte, denn bisher war alle Suche vergebens gewesen.
Es ging um eine Entführung. Der Sohn eines mächtigen Wirtschaftsbosses war gekidnappt worden, und der oder die Kidnapper waren nicht eben zart mit ihrem Opfer umgegangen, denn sie hatten ihm die Hälfte des
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