Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
Vom Netzwerk:
verleiht und darauf wartet, es zurückbezahlt zu bekommen. Wisst ihr, wozu Zahlen gebraucht werden, Kinder?»
    «Wozu, Meister?»
    «Sie werden dazu gebraucht, um alle diese unterschiedlichen Zeiten in eine gemeinsame Zeit umzurechnen, die genauso messbar ist wie Geld.»
    «Das verstehen wir nicht, Meister!»
    «Dabei ist es einfach und notwendig, wenn ihr gute Genuesen, also gute Kaufleute, werden wollt. Morgen erkläre ich euch, was ein Zinsfuß ist.»
    «Hoffentlich ist das dann klarer, Meister.»
    Er führte uns auch an jenes andere Wunder heran, die
Schönheit der Dreiecke.
    «Kennt ihr das erste Dreieck, Kinder?»
    «Nein, Meister.»
    «Es ist das Dreieck, das eure Augen mit einer Sache oder einer Person bilden, die ihr anseht.»
    «Und wozu soll das gut sein, Meister?»
    «Schließt ein Auge.»
    «Wird gemacht.»
    «Merkt ihr nichts?»
    «Nein, Meister.»
    «Ihr habt den Sinn für die Entfernung verloren. Ihr wisst nicht mehr, ob das, was ihr seht, ob ein Ding oder eine Person nahe bei euch oder weit entfernt von euch ist.»
    «Stimmt, Meister!»
    «Das Dreieck dient unter anderem dazu, Entfernungen zu berechnen.»
    Signore Haddad verdanken wir auch, dass wir lernten, warum man den Globus in 360 Grade unterteilt. Die Frage drängte sich mir eines Morgens auf: Warum hatte man keine einfachere Zahl genommen, zum Beispiel 100 oder 400?
    Unser Lehrmeister strahlte. Als genügte das Zartgefühl nicht, das er im täglichen Umgang an den Tag legte, sollte er jetzt von den Wesen sprechen, denen er besonders zugeneigt war:
    «Die Zahlen, Cristoforo und Bartolomeo, sind ein besonderes Volk, eine hochmütiges und rätselhaftes Volk. Die Menschen gebrauchen sie, aber sie fürchten sich vor ihnen. Sie versuchen immer, die Zahlen mit sichtbaren, konkreten Dingen zu verbinden. Wir lieben die Zahl 10 so sehr, weil wir zehn Finger haben. Ebenso verhält es sich mit der Zahl 360. Welcher Figur gleicht ein Jahr? Einem Kreis: Die Jahreszeiten kommen und gehen. Wie viele Tage hat ein Jahr? 365. Und welche runde Zahl kommt dieser Zahl am nächsten? 360. Diese Zahl zu wählen heißt, das Raummaß mit dem Zeitmaß zu verbinden. Ihr werdet es spüren, wenn ihr älter seid, diese Art von Widerhall oder Entsprechung beruhigt einen. Es gibt noch mehr davon. Morgen werde ich euch erklären…»
    Signore Haddad war unübertroffen darin, uns hungrig zu lassen. Diese kleine Folter helfe zu verstehen, hatte er uns erklärt. Der Geist benutze die Pause, um auf das Gelernte zurückzukommen, zum Beispiel um die zehn Finger der Hand mit neuen Augen anzusehen.
    Und die Ungeduld schärfte den Verstand.
    Am nächsten Tag ließ ich ihm keine Zeit sich zu setzen.
    «Was ist jetzt mit der Zahl 360?»
    Wie immer begann er mit einem langen Umweg:
    «Es war einmal lange vor Jesus Christus eine Gruppe von Gelehrten, die so genannt wurden, weil sie gerne den Himmel beobachteten und aus dem Lauf der Sterne die Zukunft vorhersagten. Sie lebten zwischen zwei großen Flüssen, Euphrat und Tigris. Wahrscheinlich trug diese Nähe zu fließenden Gewässern auch dazu bei, ihnen tiefe Einsicht in die Zeit zu geben. Gelehrte tun nichts lieber als Probleme lösen: Diese Lust, die einem seltsam vorkommen mag, bildet den Kern ihres Charakters. So gelangten jene Männer beim Studium dessen, was Zahlen können, zu der Zahl 60 und staunten über deren Fähigkeiten: Sie war durch eins, zwei, drei, vier, fünf und sechs teilbar. Keine kleinere Zahl hatte diese Eigenschaft. Von allem Nutzen, den eine Zahl haben kann, ist ihre Verwendbarkeit zur Bezeichnung einer Menge am offensichtlichsten. Und je einfacher die so bezeichnete Menge teilbar ist, umso größer ist der Nutzen der Zahl. Deshalb betrachteten die gelehrten Babylonier die 60 als die nützlichste unter allen Zahlen. Froh über ihre Entdeckung verwendeten sie sie, wo sie nur konnten. Zum Beispiel um die Zeit zu messen: Die Stunden wurden nun in sechzig Minuten geteilt und die Minuten in sechzig Sekunden…»
    Ich tat den Mund auf, um diesen ebenso klaren wie unaufhaltsamen Redefluss zu unterbrechen, doch Signore Haddad hatte erraten, was ich fragen wollte.
    «Du willst wissen, warum man nicht
hundert
Minuten wählte? Weil hundert nicht durch drei teilbar ist. Und die Babylonier legten auch fest, dass der Kreis 360 Grade hat.»
    «Sechs mal sechzig.»
    «Bravo, Bartolomeo!»
    Ein Jahr war noch nicht vorüber, da verschwand unser Lehrer spurlos. Vielleicht ist er in den Orient gegangen, in die Heimatder
Al-ğabr?
Er

Weitere Kostenlose Bücher