Cristóbal
rufen, dass er noch lebte. Da er unsere Küste unaufhörlich hinauf- und hinuntergesegelt sein dürfte und es bis Bordeaux zweifellos keinen besseren Hafen am Atlantik gibt, finde ich es merkwürdig, dass er nicht öfter hier an Land gegangen ist. Am wahrscheinlichsten ist daher, dass ich ihn an dem Tag, als er mich besuchte, enttäuscht habe und dass es ihm erst wieder einfiel, seinen jüngeren Bruder zu besuchen, als die Umstände es erforderlich machten.
Wie dem auch sei, eines Morgens im Frühjahr 1473 trat Cristóbal ohne anzuklopfen in die Werkstatt. Größer, als ich ihn in Erinnerung behalten hatte, das Haar röter und die Augen grauer. Er verlangte nach Bartolomeo Colombo. Ich stand vor ihm, und er erkannte mich nicht. Ich stellte mich vor. Er beglückwünschte mich dazu, die Kindheit hinter mir gelassen zu haben, und schloss mich in die Arme. Ich sagte ihm, dass Meister Andrea, der in Sagres zurückgehalten wurde, leider nicht da sei, um ihn zu empfangen. Er zuckte mit den Schultern. Mein Unbehagen nahm zu, als er zwischen den Tischen umherspazierte, seinen Blick voll Hochmut und Verachtung über unsere Arbeit schweifen ließ und am Ende sogar höhnisch grinste. Meine Kameraden, von deneneinige aufbrausend waren, begannen, ihn schief anzusehen. Als er auch noch zu verächtlichen Kommentaren ansetzte, zog ich ihn vorsichtshalber schnell nach draußen.
«Du verlierst deine Zeit, Bartolomeo!»
«Was gibt es Nützlicheres, als gute Karten zu zeichnen?»
«Du verdienst Besseres!»
Vor Verblüffung sperrte ich den Mund auf. Worin bestand wohl der Wert meiner Person, der so gut verborgen war, dass niemand, nicht einmal ich, vor allem nicht ich, ihn je ausfindig gemacht hatte, und wieso verdiente ich einen besseren Lohn?
Gönnerhaft legte er mir die Hand auf die Schulter.
«Sehr gut, eure Kritzeleien! Unbedingt notwendig für alle, die angeblich zur See fahren, aber vor Angst zittern beim Gedanken, die Küste aus den Augen zu verlieren. Für die anderen, die richtigen Seemänner, sind die einzigen Karten, die zählen, die Karten der Sterne, der Strömungen und der Winde.»
«Und was ist ein richtiger Seemann?»
«Einer, der die Meere überquert. Die anderen sind nur Küstenschiffer, Strandschrubber, Reiter, deren Pferd man an der Laufleine hält…»
Ich wollte das Thema wechseln, ihn über unsere Familie befragen. Hatte er neuere und weniger traurige Nachrichten als ich?
Verlorene Liebesmüh. Er blieb bei seinem Thema: der Polarstern, der Sonnenstand, die Geheimnisse der
Volta do mar,
des Segelns mit dem Windsystem… Dabei hatte ich ihn seit so vielen Jahren nicht gesehen!
Daher kann ich auch nicht genau angeben, zu welchem Zeitpunkt in seinem Leben ihn die Weiten des Meeres zu locken begannen.
Wie lange ist er in Lissabon geblieben? Zwei oder drei Tage? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur an eine Windböe und eine ununterbrochen redende Erscheinung, die einen endlosen, fiebrigen Monolog hielt. Selbst nach so langer Zeit habe ich noch den Klang seiner Stimme in den Ohren. Er versuchte nicht, mitmir zu sprechen. Er wollte mich indoktrinieren. Und mich anwerben.
Ich wollte ihn gerade fragen, was er über die
Volta do mar
wusste, als ihn die zu Mittag läutende Glocke der Kirche Santa Maria Madalena in die Wirklichkeit zurückholte. Die Flut erwartete ihn.
Ohne sich umzudrehen, eilte er zum Hafen.
Ich musste noch einmal drei Jahre warten, bis er mir seine berühmte Version von der
Volta do mar
darlegte und mir erklärte, warum sie die erste Verbündete seines Unternehmens sein sollte.
Meister Andrea betrachtete seine Kartenwerkstatt als ein Schiff.
«Auch wir fahren zur See», wiederholte er immer wieder. «Auf Meeren, die es an Gewalt und Heimtücke leicht mit dem Mittelmeer und dem Atlantik aufnehmen können. Auch wir müssen uns in Acht nehmen vor Riffen, vor der Charybdis der Leichtgläubigkeit, vor der Scylla des Unwissens. Auch wir müssen Flauten die Stirn bieten und vorankommen, soll heißen, wir dürfen uns nicht von der Wiederholung einschläfern lassen. Auch wir müssen durch Stürme hindurch: Die Wut der Winde heißt Konkurrenz, und sie verfolgt uns pausenlos.»
Wenn er plötzlich begann, diese Allegorie zu reiten, wurde der gewöhnlich so kühle und maßvolle Meister Andrea lyrisch:
«Das tägliche Ziel unserer Reise ist die Wahrheit! Setzt die Segel!»
Die Besatzung für sein Schiff hatte er sorgfältig ausgewählt. Ich möchte der Mannschaft gebührlich
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