Cristóbal
verwandt, diesen einzigen Kunden zufriedenzustellen.
Und wenn es mir dann gelang, diese Raritäten für ihn aufzutreiben, deren Unabdingbarkeit mir bis zum heutigen Tag rätselhaftist, machte er – natürlich – nicht die geringsten Anstalten, sie zu bezahlen.
«Wo ist dein Bruder?» Das war stets die erste Frage unserer treuen Kunden für Karten und Bücher, sobald sie die Tür zu unserer Bude aufmachten. Und jedes Mal verzogen sie enttäuscht das Gesicht, wenn sie mich allein vorfanden.
Anfangs versuchte ich es mit Notlügen.
«Er ist gestern nach Flandern in See gestochen.»
Oder:
«Er schläft.»
Doch wie soll man in einer so kleinen und so sehr um den Hafen konzentrierten Stadt wie Lissabon die Wahrheit verbergen?
«Du lügst, Bartolomeo! Seit einer Woche hat kein Schiff nach Norden mehr abgelegt!»
Oder:
«Halte mich nicht zum Narren, Bartolomeo! Jeder weiß, dass er den Schlaf für sich abgestellt hat und dass sein Haar deshalb so rot ist. Seine Müdigkeit verbrennt ihn.»
Sehr schnell gab es für mich keine andere Lösung mehr, als die Schande der Familie zu gestehen: Seit einigen Monaten verbrachte mein Bruder Tag und Nacht damit zu lesen.
Welche Verwünschungen und welches Hohngelächter musste ich nicht über mich ergehen lassen!
Alle wollten ihn von seiner neuen Leidenschaft befreien. Sie behaupteten, er schwebe in großer Gefahr.
«Wo ist er, damit ich ihm zeigen kann, was leben heißt?»
«Ich weiß es nicht. Wenn mein Bruder liest, verschwindet er.»
«Und du tust nichts, um ihn daran zu hindern? Unglück über dich, Bartolomeo! Bücher sind Abgründe, sie gleichen denen, die unvorsichtige Seemänner hinter dem Horizont erwarten. Eines Tages wird dein Bruder nicht mehr zurückkehren.»
Von Priestern genährt, war die Furcht vor Büchern, die Bibel ausgenommen, weit verbreitet. Während Karten Sicherheit gaben, insofern sie sich damit begnügten, ein möglichst genauesAbbild der Schöpfung wiederzugeben, hielten die Seemänner Bücher für ein Werk des Teufels, Beweis seiner Absicht, die Menschen irrezuleiten und in die Hölle zu bringen.
Schließlich wurde auch ich von den Befürchtungen angesteckt. Da ich nichts gegen Cristóbals Lesewut tun konnte, versuchte ich, die Gründe dafür zu verstehen.
«Warum hockst du immer hinter Büchern, bis dir die Augen zufallen?»
«Weil ich nicht immer auf See sein kann.»
«Wie können dich Bücher darüber hinwegtrösten, nicht auf See zu sein? Wie können sie dir die Schiffe ersetzen?»
«Lesen ist, als betrachtete man den Horizont. Zuerst sieht man nur eine schwarze Linie. Dann stellt man sich Welten vor.»
«Das glaube ich gerne. Aber woher kommt diese Manie, auf die Ränder aller Bücher zu schreiben, die du liest?»
«Um richtig zu lesen, muss ich schreiben. Meine Notizen sind der Führer, das Geländer der Gedanken, die durch die Lektüre hervorgerufen werden. Ich kenne die Gedanken: Ohne Führung, ohne Geländer gehen sie wer weiß wohin und kehren nie mehr zurück.»
Eine weitere Antwort meines Bruders:
«Schreiben ist Seefahrt auf dem Festland. Eine weiße Seite ist ein Segel, das man hisst. Die Wörter sind die Spur des Kielwassers, die verschwindet.»
Noch eine Antwort meines Bruders:
«Jedes Buch erfindet seine Route. Es segelt ebenso frei durch all die möglichen Geschichten wie jedes Schiff auf dem Meer zwischen allen Himmelsrichtungen.»
Und noch eine Antwort meines Bruders:
«Durch die Randnotizen verbinde ich mich mit dem Verfasser. Ich überlasse mich seinem Argumentationsgang, bis zur Mündung.»
Eine andere (und sehr häufige) Antwort meines Bruders:
«Lass mich in Frieden!»
Eine andere (und noch häufigere) Antwort meines Bruders: nichts. Hartnäckiges Schweigen, hin und wieder von einem entnervten Knurren durchbrochen.
Es lag allein an mir, unseren winzigen Laden am Laufen zu halten, der dennoch so viel an Einkünften abwerfen sollte, dass wir nicht wirklich verhungerten. Da mir Wörterbücher schon immer von allen Büchern am liebsten waren, hatte ich beschlossen, selbst welche herzustellen.
Wie Sie wissen, war es in Portugal seit Heinrich dem Seefahrer üblich, dass sich an Bord jeder Karavelle außer dem Notar noch ein aus dem Gefängnis geholter Verbrecher befand. Wenn das Schiff an die Küste eines unbekannten Landes gelangte, setzte man den Verbrecher dort aus. Sollte er zusehen, wie er überlebte.
Auf der Rückreise machte die Karavelle erneut halt, um ihn
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