Cromwell, Bernard
das
Totenhaus umkreisten, das aus drei Ringen von behauenen Eichenstämmen bestand.
Die nackten, glatten Baumstämme waren mit Tierfett eingeölt sowie mit
Efeuranken und Stechpalmenzweigen behängt gewesen.
Jetzt überwucherten den Wall dichtes Gras und Unkraut.
Kleine Haselbüsche wuchsen in dem Ringgraben, und weitere Haselnusssträucher
hatten sich auf der weiten Fläche im Inneren des Walls angesiedelt; aus der
Ferne wirkte der Tempel wie ein Wäldchen von Sträuchern und Büschen. Vögel
nisteten jetzt dort, wo einst Menschen getanzt hatten. Ein Eichenpfeiler des
Totenhauses ragte noch immer über dem Gestrüpp auf; doch der Pfahl stand
mittlerweile schief, sein einst glattes Holz war rissig, schwarz verfärbt und
dicht mit allerlei Pilzen überwachsen.
Denn die Menschen hatten den Tempel aufgegeben — dennoch
vergessen die Götter ihre Heiligtümer nicht. Manchmal, an stillen Tagen, wenn
milchige Nebelschwaden über dem Weidegrund lagen oder der riesige Vollmond
reglos über dem Kreidering stand, erzitterten die Haselnussblätter, so, als ob
ein Windhauch durch das Laub strich. Die Tanzenden waren verschwunden, aber die
göttlichen Kräfte konnte man immer noch spüren.
Und jetzt war ein Fremder in das Heiligtum eingedrungen.
Die Götter schrien vor Zorn.
Wolkenschatten verdunkelten die Weide, als Lengar und
Saban auf den Alten Tempel zurannten. Saban fror, und er hatte Angst. Lengar
fürchtete sich ebenfalls; aber die Fremdländischen waren berühmt für ihren
Reichtum, und seine, Lengars, Gier überwog seine Furcht, den Tempel zu
betreten.
Der Fremde war durch den Rundgraben gekrochen und den Wall
hinaufgeklettert; deshalb eilte Lengar zu dem alten Eingang an der Südseite, wo
ein schmaler, erhöhter Fußweg in das überwachsene Innere führte. Hinter dem
Fußweg ließ Lengar sich auf alle viere nieder und kroch durch die
Haselnusssträucher. Widerstrebend tat Saban es ihm nach, weil er nicht allein
auf der Weide zurückbleiben wollte, wenn sich der Zorn des Sturmgottes entlud.
Zu Lengars Überraschung war der Alte Tempel nicht
vollkommen von Gestrüpp überwuchert; denn dort, wo einst das Totenhaus
gestanden hatte, erstreckte sich eine gerodete Fläche. Irgendjemand aus dem Stamm
musste noch immer den Alten Tempel besuchen, weil das Unkraut gejätet und das
Gras mit einem Messer geschnitten worden war und ein einzelner Ochsenschädel in
dem verfallenen Totenhaus lag, wo jetzt der Fremde saß, den Rücken gegen den
letzten Tempelpfeiler gelehnt. Die Wangen des Mannes waren bleich, seine Augen
geschlossen — aber seine Brust hob und senkte sich unter keuchenden, mühsamen
Atemzügen. Er trug einen schmalen, langen Keil aus dunklem Stein an der Innenseite
seines linken Handgelenks, mit Lederschnüren befestigt. Seine wollenen
Beinlinge starrten vor Blut. Der Mann hatte seinen kurzen Bogen und den Köcher
mit Pfeilen neben den Ochsenschädel fallen lassen und presste jetzt einen
Lederbeutel gegen seinen verletzten Bauch. Drei Tage zuvor war er im Wald aus
dem Hinterhalt überfallen worden. Er hatte seine Angreifer nicht gesehen, nur
den plötzlichen stechenden Schmerz gespürt, als ein Speer ihn erwischte; dann
hatte er seinem Pferd hastig die Fersen in die Flanken gedrückt und sich von
ihm aus der Gefahrenzone tragen lassen.
»Ich werde Vater holen«, flüsterte Saban.
»Du wirst nichts dergleichen tun!«, zischte Lengar. Der
Verwundete musste sie gehört haben, denn er riss die Augen auf, und sein
Gesicht verzerrte sich zu einer gequälten Grimasse, als er sich vorbeugte, um
nach seinem Bogen zu greifen. Aber der Schmerz beeinträchtigte den Fremden in
seiner Beweglichkeit, und Lengar war sehr viel schneller als er. Er ließ seinen
Langbogen fallen, sprang aus seinem Versteck und rannte hinüber zu dem
Totenhaus, um mit einer Hand den Bogen des Fremden an sich zu raffen und mit
der anderen dessen Köcher. In seiner Hast kippte er die Pfeile aus, sodass nur
noch einer in dem Lederköcher zurückblieb.
Von Westen her ertönte gedämpftes Grollen. Saban erschauerte,
voller Angst, dass das Geräusch anschwellen würde, um die Luft mit dem Zorn des
Sturmgottes zu erfüllen — aber der Donner verhallte wieder, und danach
herrschte tödliche Stille am Himmel.
»Sannas«, sagte der Fremde, dann fügte er ein paar Worte
in einer Sprache hinzu, die weder Lengar noch Saban sprachen.
»Sannas?«, fragte Lengar.
»Sannas«, wiederholte der Mann mit Nachdruck. Sannas war
die mächtige Zauberin von
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