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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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schnellsten Heimweg nach
der Schule: an diesen Jungen, an seine Haut, kupferbraun von der Sonne, an sein
schwarzes Haar, das im Nacken klebte. Er spielte irgendein Spiel mit den
Ritzen zwischen den Pflastersteinen, sodass er Grey nicht gleich bemerkte, der
mit seinem Pick-up langsam hinter ihm herfuhr und dann anhielt. Wie allein er
aussah ...
    Du wolltest ihn lieben, nicht wahr, Grey? Ihn
deine Liebe spüren lassen?
    Er fühlte, wie eine gewaltige, schlafende Macht
in ihm schwerfällig zum Leben erwachte. Der alte Grey. Panik schnürte ihm die
Kehle zu.
    Ich weiß es nicht mehr.
    Doch, du weißt es noch. Aber sie haben etwas mit
dir gemacht, Grey. Sie haben dir diesen Teil weggenommen, den Teil, der Liebe
empfinden konnte.
    Ich hab nicht ... ich kann nicht -
    Er ist noch da, Grey. Er ist nur vor dir
verborgen. Ich weiß es, denn dieser Teil war auch in mir verborgen. Bevor ich
wurde, was ich bin.
    Was du bist.
    Du und ich, wir sind gleich. Wir wissen, was wir
wollen, Grey. Liebe geben, Liebe spüren. Mädchen, Jungen, das ist alles das
Gleiche. Wir wollen sie lieben, wie sie geliebt werden müssen. Willst du das,
Grey? Willst du es wieder fühlen?
    Er wusste es. In diesem Augenblick wusste er es.
    Ja. Das will ich.
    Ich muss nach Hause, Grey. Ich will dich
mitnehmen, es dir zeigen.
    Und Grey sah sie wieder vor seinem geistigen
Auge, als sie vor ihm heraufwuchs: die große Stadt, New York. Überall um ihn
herum, summend und brummend, mit einer Energie, die jeden Stein und jeden
Ziegel durchdrang und auf unsichtbaren Verbindungslinien in seine Fußsohlen
strömte. Es war dunkel, und er empfand die Dunkelheit als etwas Wunderbares,
zu dem er gehörte. Sie floss in ihn hinein, durch seine Kehle und in seine
Lunge, und es war ein machtvolles, wohliges Ertrinken. Er war überall und
nirgends zugleich, er bewegte sich nicht über die Landschaft hinweg, sondern
durch sie hindurch, ein und aus, und er sog die dunkle Stadt in sich auf, die
auch ihn aufsog.
    Dann sah er sie. Da war sie. Ein Mädchen. Sie
war allein auf dem Fußweg zwischen den Collegegebäuden - ein Wohnheim voll
lachender Studenten, eine Bibliothek mit stillen Fluren, die großen Fenster
von Frost beschlagen, ein leeres Büro, wo eine einsame Putzfrau mit
Motown-Musik im Kopfhörer sich über einen fahrbaren Eimer beugte, um ihren
Mopp auszuspülen. Er kannte das alles, er hörte das Lachen und die Laute des
ruhigen Lernens, und er konnte die Bücher auf den Regalen zählen und den Text
des Lieds hören, das die Frau mit dem Eimer mitsummte - whenever
you're near ... dah dah ... I hear a symphony -,
und da war das Mädchen vor ihm auf dem Weg, und ihre einsame Gestalt schimmerte
und pulsierte von Leben. Sie kam geradewegs auf ihn zu, den Kopf vor dem Wind
gesenkt, und die zierlichen, unter dem schweren Mantel gehobenen Schultern
verrieten ihm, dass sie etwas Schweres trug. Das Mädchen, das eilig nach Hause
ging. So allein. Sie war lange geblieben und hatte die Worte in dem Buch studiert,
das sie an ihre Brust drückte, und jetzt hatte sie Angst. Grey wusste es; er
hatte ihr etwas zu sagen, bevor sie weg war. Du
hast es gern, das hast du gern, ich werde es dir zeigen ...
Er erhob sich, schwang sich auf, fiel über sie her - Liebe
sie, Grey. Nimm sie.
    Dann wurde ihm schlecht. Er kippte auf seinem
Stuhl nach vorne, und in einem krampfhaften Schwall entließ er den Inhalt
seines Magens auf den Boden: Suppe und Salat, rote Bete, Stampfkartoffeln und
Schinken. Sein Kopf klemmte zwischen den Knien, und ein langer Faden Speichel
hing an seinen Lippen.
    Verdammt, was ist das? Verdammt.
    Langsam richtete er sich auf, und allmählich
wurde sein Kopf wieder klar. E4. Er war auf E4. Etwas war passiert. Er wusste
nicht mehr, was. Ein schrecklicher Traum vom Fliegen. Im Traum hatte er etwas
gegessen. Er hatte den Geschmack noch im Mund, einen Geschmack wie von Blut.
Hatte er sich auf die Zunge gebissen? Und dann hatte er auf einmal gekotzt.
    Kotzen, dachte er, und sein
Magen krampfte sich zusammen - das war schlecht. Er wusste, worauf er zu achten
hatte. Erbrechen, Fieber, Krämpfe. Oder schon ein heftiges Niesen aus heiterem
Himmel. Die Schilder hingen überall, nicht nur im Chalet, sondern auch in der
Baracke, im Speisesaal, sogar auf dem Lokus: »Alle nachfolgend aufgeführten
Symptome sind unverzüglich dem
diensthabenden Offizier zu melden ...«
    Er dachte an Richards. Richards mit seinem
kleinen, tanzenden Lichtpunkt und die Männer namens Jack und Sam. O Scheiße.

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