Cronin, Justin
hatte. Sie spürte ihre Winzigkeit; gegen Schwester Claire
kam sie nicht an.
»Seht doch - die Schwester ist verletzt...«
»Gütiger Gott im Himmel!«
»Seht euch ihre Hände an!«
»Bitte«, schluchzte Arnette, »helft mir.«
Schwester Claire ließ sie los. Ehrfürchtiges
Schweigen senkte sich herab. Dunkelrote Streifen liefen an Arnettes
Handgelenken hinunter. Claire nahm eine von Arnettes Fäusten und bog sie sanft
auf. Die Handfläche war voller Blut.
»Seht doch, es sind nur ihre Fingernägel«, sagte
Claire und zeigte es allen. »Sie hat sich die Fingernägel in die Handfläche
gebohrt.«
»Bitte«, sagte Arnette, und die Tränen liefen
ihr über die Wangen. »Macht die Tür auf und seht hinein.«
Niemand wusste, wo der Schlüssel war. Schwester
Tracy kam auf den Gedanken, den Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten unter
der Küchenspüle zu holen und das Schloss aufzuhebein. Aber als es endlich so
weit war, wusste Schwester Arnette schon, was sie finden würden.
Das Bett, in dem niemand geschlafen hatte. Die
Gardine vor dem offenen Fenster, die im Abendwind wehte.
Die Tür öffnete sich, und das Zimmer war leer.
Schwester Lacey Antoinette Kudoto war verschwunden.
02:00 Uhr. Die Nacht verging im Schneckentempo.
Nicht dass sie für Grey gut angefangen hatte.
Nach seinem Zusammenstoß mit Paulson in der Kantine war Grey in sein Zimmer in
der Baracke zurückgekehrt. Bis Schichtbeginn hatte er immer noch zwei Stunden
totzuschlagen; das war mehr als genug Zeit zum Nachdenken über das, was
Paulson über Jack und Sam gesagt hatte. Das Gute daran war, dass es ihn von
dieser anderen Sache ablenkte, von diesem komischen Echo in seinem Kopf, aber
es war trotzdem beschissen, nur herumzusitzen und sich irgendwie Sorgen zu
machen. Um Viertel vor zehn, als er kurz davor war, aus der Haut zu fahren, zog
er seinen Parka an und ging über das Gelände hinüber zum Chalet. Unter den
Lichtern des Parkplatzes gönnte er sich eine letzte Parliament und sog den
Rauch in seine Lunge, während ein paar Mediziner und Labortechniker mit
schweren Wintermänteln über den OP-Anzügen aus dem Gebäude kamen, in ihre Autos
stiegen und wegfuhren. Keiner grüßte ihn auch nur mit einem Winken.
Der Boden vor dem Eingang war glitschig. Grey
stampfte den Schneematsch von seinen Stiefeln und trat an die Theke, wo der
Wachmann ihm seine Karte abnahm und durch den Scanner zog, bevor er ihn zum
Aufzug weiterwinkte. Drinnen drückte er auf den Knopf für Ebene drei.
»Warten Sie!«
Grey machte innerlich einen Satz: Richards.
Einen Augenblick später trat der Mann zielstrebig in den Aufzug. An seiner
Nylonjacke hing eine Wolke kalter Außenluft.
»Grey.« Richards drückte auf den Knopf für E2
und warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »Verdammt, wo waren Sie heute
Morgen?«
»Ich hab verschlafen.«
Die Tür glitt zu, und die Kabine begann ihre
langsame Abwärtsfahrt.
»Glauben Sie, Sie sind hier im Urlaub? Glauben
Sie, Sie können einfach aufkreuzen, wenn Sie Lust haben?«
Grey schüttelte den Kopf und schaute zu Boden.
Beim bloßen Klang der Stimme dieses Mannes krampfte sich sein Arsch zusammen
wie eine Faust. Nie im Leben würde Grey ihm ins Gesicht sehen.
»M-m.«
»Mehr haben Sie nicht zu sagen?«
Grey roch seinen eigenen nervösen Schweiß - ein
ranziger Gestank wie von Zwiebeln, die zu lange im Gemüsefach gelegen hatten.
Wahrscheinlich konnte Richards ihn auch riechen. »Glaub nicht.«
Richards schnupperte und sagte nichts. Grey
wusste, dass er sich überlegte, was er tun sollte.
»Ich streiche Ihren Lohn für zwei Schichten«, sagte
Richards schließlich und blickte fest geradeaus. »Zwölfhundert Dollar.«
Die Tür glitt auf. Sie waren auf E2.
»Das passiert nicht noch mal«, warnte Richards.
Er verließ den Aufzug und ging davon. Als die
Tür sich hinter ihm schloss, ließ Grey die angehaltene Luft aus der Lunge.
Zwölfhundert Dollar, das tat weh. Aber Richards ... er machte Grey ziemlich
nervös. Erst recht jetzt, nach der kleinen Rede, die Paulson ihm in der Kantine
gehalten hatte. Grey glaubte allmählich, dass den beiden wirklich etwas zugestoßen
war, dass sie nicht einfach nur verduftet waren. Er erinnerte sich an den
tanzenden roten Lichtpunkt auf dem Feld. Ja, es musste so sein: Irgendetwas war
passiert, und Richards hatte diesen Lichtpunkt auf Jack und Sam gerichtet.
Die Tür zur Ebene drei öffnete sich, und er sah
den Sicherheitsposten, zwei Soldaten mit der orangegelben Armbinde der Wache.
Er
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