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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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manchmal tat? Wieso bekam Grey inzwischen schon
Gänsehaut, wenn er nur hiersaß. Denn das war das Komische bei Zero, mehr noch
als bei den andern: Wenn man bei ihm war, hatte man das Gefühl, es sei eine
andere Person im Raum. Zero hatte einen Verstand, und man konnte spüren, wie
dieser Verstand arbeitete. Noch fünf Stunden. Zero hatte sich nicht einen
Zollbreit bewegt, seit Grey hier war. Aber die Anzeige unter dem
Infrarotmonitor registrierte immer noch eine Pulsfrequenz von 102, nicht
anders, als wenn er sich bewegte. Grey bereute, dass er nicht daran gedacht
hatte, eine Illustrierte oder ein Kreuzworträtselheft mitzubringen, um wach zu
bleiben, aber Paulson hatte ihn so sehr durcheinandergebracht, dass er es
vergessen hatte. Außerdem sehnte er sich nach einer Zigarette. Viele der andern
rauchten heimlich auf dem Klo - nicht nur die Reinigungsleute, sondern auch die
Techniker und sogar ein oder zwei Ärzte. Es war allgemein klar, dass man dort
rauchen durfte, wenn man unbedingt musste und wenn es nicht länger als fünf
Minuten dauerte, aber Grey wollte sein Glück bei Richards nicht auf die Probe
stellen - nicht nach der Begegnung mit Richards im Aufzug.
    Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Noch
fünf Stunden. Er schloss die Augen. Grey.
    Was zum Teufel ... ? Grey riss die Augen auf und
saß plötzlich kerzengerade. Grey. Sieh mich an.
    Es war keine Stimme, was er da hörte, nein,
eigentlich nicht. Die Worte waren in seinem Kopf, fast so, als könne er sie
lesen; es waren die Worte eines anderen, aber die Stimme war seine eigene.
    »Wer ist da?«
    Auf dem Monitor die leuchtende Gestalt Zeros. Ich
hieß Fanning.
    Und jetzt sah Grey es, als habe jemand in seinem
Kopf eine Tür geöffnet. Eine Stadt. Eine große Stadt, pulsierend von Licht. So
viele Lichter, dass es aussah, als sei der Nachthimmel auf die Erde gefallen
und bedecke Gebäude und Brücken und Straßen. Dann trat er durch die Tür, und
er fühlte und roch, wo er war: den harten, kalten Asphalt unter seinen Füßen,
die schmutzigen Auspuffgase und den Geruch von Stein, die Winterluft, die sich
in festen Bahnen um die Gebäude herum bewegte, sodass man immer den Wind im
Gesicht spürte. Aber es war nicht Dallas oder sonst eine Stadt, in der er schon
gewesen war. Es war ein kalter Ort, und es war Winter. Halb saß er am
Steuerpult auf E4, und halb war er an diesem anderen Ort. Er wusste, dass seine
Augen geschlossen waren.
    Ich will nach Hause. Bring mich nach Hause,
Grey.
    Ein College, das wusste er, aber wie kam er
darauf? Dass es ein College war, was er da sah? Und woher konnte er wissen,
dass dies New York City war, wo er in seinem ganzen Leben noch nie gewesen war?
Er kannte die Stadt nur von Bildern. Und die Gebäude um ihn herum waren die
Gebäude einer Universität: Büros, Hörsäle, Wohnheime, Labors. Er ging einen
Weg entlang - nein, eigentlich ging er nicht, aber er bewegte sich irgendwie
voran, und Menschen strömten an ihm vorbei.
    Sieh sie an.
    Es waren Frauen. Junge Frauen, eingemummelt in
dicke Wollmäntel und Schals, die fest um den Hals zusammengebunden waren, und
manche hatten sich Mützen tief ins Gesicht gezogen, und ihr junges Haar quoll
wie Seidentücher unter dem Druck dieser Halbkugeln hervor auf ihre glatt
gerundeten Schultern. Sie alle strömten durch die kalte Winterluft in New York
City. In ihren Augen leuchtete das Leben. Sie lachten, und sie trugen Bücher
unter dem Arm oder an die schlanke Brust gedrückt und redeten in lebhaftem Ton
miteinander, auch wenn er die Worte nicht hören konnte.
    Sie sind schön. Sind sie nicht schön, Grey?
    Ja. Sie waren schön. Warum hatte Grey das nie
gewusst?
    Kannst du es nicht fühlen, kannst du die Mädchen
nicht riechen? Ich konnte nie genug davon bekommen, sie zu riechen. Wie die
Luft hinter ihnen süßer wird, wenn sie vorbeigehen. Dann stand ich einfach da
und atmete es ein. Du riechst sie auch, nicht wahr, Grey? Wie die Jungen.
    Die Jungen.
    Du erinnerst dich doch an die Jungen, nicht wahr,
Grey?
    Ja. Er erinnerte sich an die Jungen. Die Jungen,
die von der Schule nach Hause gingen, schwitzend in der Hitze, die
Büchertaschen schwer an ihren Schultern, mit feuchten Hemden, die am Körper
klebten. Er erinnerte sich an den Geruch von Schweiß und Seife, von Haut und
Haaren, und an den feuchten Halbmond auf ihrem Rücken, wo die Schultasche auf
das Hemd drückte. Und an den einen Jungen, den Nachzügler, der jetzt die
Abkürzung durch die Gasse zwischen den Häusern nahm, den

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