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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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essen
wäre besser als gar nichts. Aber die Army hat ihn erschossen und in der Olney
Avenue an einen Laternenpfahl gehängt, mit einem Schild auf der Brust, auf dem
stand: »Plünderer«. Keine Ahnung, was er plündern wollte, außer vielleicht
einen Hund, der halb verhungert war und sowieso gestorben wäre.
    Und eines Nachts hörten wir dann einen
unglaublich lauten Knall, und dann noch einen und noch einen, und Flugzeuge
kreischten über unsere Köpfe hinweg und mein Daddy sagte mir, sie hätten die
Brücken gesprengt. Den ganzen nächsten Tag über sahen wir noch mehr Flugzeuge,
wir rochen Feuer und Rauch, und wir wussten, dass die Jumps in der Nähe waren.
Ganze Stadtteile standen in Flammen. Ich ging ins Bett, und einige Zeit später
weckte mich ein Streit. Unser Haus hatte nur vier Zimmer und war hellhörig; man
konnte in einem Zimmer nicht niesen, ohne dass in einem andern jemand »Gesundheit!«
rief. Ich hörte, wie meine Mama weinte und weinte, und mein Vater sagte, das
kannst du nicht, wir müssen es tun, du musst stark sein, Anita. Lauter
solche Sachen, und dann ging meine Zimmertür auf, und mein Vater stand da. Er
hielt eine Kerze in der Hand, und noch nie im Leben hatte ich ihn so verstört
gesehen. Als wäre er einem Geist begegnet, und der Geist war er selbst. Schnell
zog er mich warm an und sagte: »Sei jetzt brav, Ida. Geh und sag deiner Mutter
auf Wiedersehen.« Und als ich das tat, hielt sie mich lange, lange fest im Arm
und weinte so sehr, dass es immer noch wehtut, wenn ich daran denke, nach all
den Jahren. Ich sah den kleinen Koffer an der Tür und fragte, fahren wir
irgendwohin, Mama? Gehen wir weg? Aber sie gab keine Antwort, sie weinte nur
immer weiter und hielt mich fest, bis mein Daddy mich losmachte. Dann gingen
wir, mein Daddy und ich. Nur wir beide.
    Erst draußen wurde mir klar, dass es noch mitten
in der Nacht war. Es war kalt und windig. Flocken fielen vom Himmel, und ich
dachte, es wäre Schnee, bis ich eine von meiner Hand leckte und merkte, dass es
Asche war. Man konnte den Rauch riechen; er brannte mir in den Augen und im
Hals. Wir hatten einen weiten Weg und waren fast die ganze Nacht auf den
Beinen. Das Einzige, was sich auf der Straße bewegte, waren die Trucks der
Army. Manche hatten Trichter auf dem Dach, aus denen Stimmen kamen, die den
Leuten sagten, sie sollten nicht stehlen und ruhig bleiben bei der Evakuierung.
Ein paar Leute waren auch unterwegs, zuerst nicht viele, aber immer mehr, je
weiter wir kamen, bis die Straße voll von ihnen war. Keiner sprach ein Wort.
Alle gingen in unsere Richtung mit ihren Koffern. Ich glaube, ich hatte noch
gar nicht begriffen, dass es nur die Kinder waren, die wegfahren würden.
    Es war noch dunkel, als wir am Bahnhof ankamen.
Ich habe schon das eine oder andere darüber gesagt. Mein Vater sagte, wir wären
schon so früh hingegangen, um nicht Schlange stehen zu müssen. Er hasste
Schlange stehen, aber es sah aus, als hätte die halbe Stadt die gleiche Idee
gehabt. Wir mussten lange warten, und allmählich wurde die Sache unangenehm,
das konnte man spüren. Wie wenn ein Gewitter aufzieht und die Luft knistert
und knackt. Die Leute hatten zu viel Angst. Die Feuer gingen aus, und die Jumps
kamen, sagten die Leute. Wir hörten lautes Krachen in der Ferne, wie Donner,
und Flugzeuge flogen über uns hinweg, schnell und tief. Jedes Mal, wenn man
eins sah, knackte es in den Ohren, und eine Sekunde danach gab es einen Knall,
dass der Boden unter den Füßen wackelte. Manche Leute waren auch ohne Kinder
da. Mein Vater hielt mich fest an der Hand. Im Zaun war eine Öffnung, wo die
Soldaten die Leute durchließen, und da mussten wir auch hin. Es war so eng in
dem Gedränge, dass ich kaum noch Luft kriegte. Manche Soldaten hatten Hunde
dabei. Was auch passiert, du bleibst bei mir, Ida, sagte mein Daddy. Halt dich
fest.
    Dann endlich konnten wir unter uns den Zug
sehen. Wir waren auf einer Brücke über den Gleisen. Ich schaute daran entlang,
aber ich konnte nicht bis zum Ende sehen, so lang war der Zug. Er schien sich
endlos hinzuziehen, hundert Wagen lang. Und er sah anders aus als jeder Zug,
den ich bis dahin gesehen hatte. Die Wagen hatten keine Fenster, und seitlich
ragten lange Stangen mit Netzen heraus, wie Vogelflügel. Auf den Dächern waren
Soldaten mit großen Gewehren in Metallkäfigen, eingesperrt wie Kanarienvögel.
Zumindest nehme ich an, dass es Soldaten waren, denn sie trugen silbern
glänzende Anzüge zum Schutz gegen das

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