Cronin, Justin
Feuer.
Ich weiß nicht mehr, was mit meinem Vater
passierte. An manche Dinge kann man sich nicht erinnern, weil das Gedächtnis
sie nicht speichert, wenn sie einmal passiert sind. Ich erinnere mich an eine
Frau, die einen Karton mit einer Katze bei sich hatte, und ein Soldat sagte,
Lady, was haben Sie mit der Katze vor, und dann ging es ganz schnell: Ob man's
glaubt oder nicht, der Soldat erschoss die Frau an Ort und Stelle. Dann fielen
noch mehr Schüsse, und die Leute rannten auseinander und schubsten und
schrien, und bei all dem wurden mein Daddy und ich getrennt. Als ich seine Hand
suchte, war sie nicht mehr da. Das Gedränge bewegte sich wie ein Fluss und riss
mich mit. Es war furchtbar. Die Leute schrien, der Zug wäre noch gar nicht voll
und würde trotzdem abfahren. Das muss man sich vorstellen: Ich hatte meinen
Koffer verloren, und das Einzige, woran ich dachte, war, dass mein Daddy stink
wütend auf mich sein wird. Pass auf deine Sachen auf, Ida, sagte er immer, und
sei nicht so nachlässig. Wir haben schwer gearbeitet für das, was wir haben;
also geh nicht damit um, als wäre es nichts. Deshalb dachte ich gerade, ich
bekäme jetzt den größten Ärger meines Lebens wegen dem Koffer, als mich etwas
zu Boden schleuderte, und als ich aufstand, sah ich die Toten überall um mich
herum. Einer war ein Junge, den ich aus der Schule kannte. Vincent Gum - der
Kerl kriegte immer Ärger, weil er so gern Kaugummi kaute und in der Schule
immer welchen im Mund hatte. Aber jetzt hatte er ein Loch mitten in der Brust
und lag auf dem Rücken in einer Blutpfütze. Aus dem Loch in seiner Brust kam
immer noch mehr Blut, mit lauter Luftblasen wie der Schaum in der Badewanne.
Ich weiß noch, dass ich dachte, da liegt Vincent Gum, und er ist tot. Eine
Kugel ist durch seinen Körper gefahren und hat ihn umgebracht. Er wird sich nie
wieder bewegen oder reden oder sein Kaugummi kauen. Er wird jetzt immer nur
daliegen und ein Gesicht machen, als hätte er alles vergessen.
Ich war immer noch auf der Brücke, und die Leute
fingen an, auf den Zug hinunterzuspringen. Alles schrie durcheinander. Die
Soldaten feuerten in die Menge, als ob ihnen jemand befohlen hätte, auf alles
zu schießen, was sich bewegte. Ich spähte über das Geländer und sah, dass die
Leichen sich stapelten wie Holz in einem Feuer, und überall war Blut, so viel
Blut, dass man denken konnte, die Welt hätte ein Leck bekommen.
Dann hob mich jemand hoch. Ich dachte, es wäre
mein Daddy, und er hätte mich doch noch gefunden, aber er war es nicht, es war
bloß irgendein Mann. Ein großer dicker Weißer mit einem Bart. Er packte mich
um die Taille und rannte mit mir zur anderen Seite der Brücke, wo eine Art
Trampelpfad durch das Unkraut hinunterführte. Wir stiegen auf eine Mauer über
den Gleisen, und der Mann fasste mich bei den Händen und ließ mich hinunter,
und ich dachte, gleich lässt er mich fallen, und dann werde ich sterben wie
Vincent Gum. Ich sah dem Mann ins Gesicht, und nie werde ich seine Augen
vergessen. Es waren die Augen eines Menschen, der wusste, dass er so gut wie
tot war. Mit diesem Blick ist man nicht jung oder alt, nicht schwarz oder weiß,
nicht mal Mann oder Frau. Das alles hat man dann hinter sich. Er schrie: Jemand
muss sie nehmen, jemand muss dieses Kind hier nehmen! Und dann packte mich
jemand bei den Beinen und hob mich herunter, und ehe ich mich versah, war ich
im Zug, und der Zug fuhr.
Und irgendwo da drin fing ich an zu denken, dass
ich niemanden je wiedersehen würde, nicht meine Mama und meinen Daddy und überhaupt
niemanden, den ich bis dahin gekannt hatte.
Was ich danach in Erinnerung habe, ist eher ein
Gefühl als irgendetwas Handfestes. Ich erinnere mich, dass Kinder weinten und
dass ich Hunger hatte, ich erinnere mich an Dunkelheit und Hitze und den Geruch
von dicht zusammengedrängten Körpern. Draußen hörten wir Schüsse, und wir
spürten die Hitze des Feuers, die durch die Wände drang, als stände die ganze
Welt in Flammen. Die Wände wurden so heiß, dass man sie nicht mehr anfassen
konnte, ohne sich die Hand zu verbrennen. Einige Kinder waren nicht mal vier
Jahre alt, praktisch noch Babys. Wir hatten zwei Wächter bei uns im Wagen,
einen Mann und eine Frau. Sie sahen aus wie Soldaten, aber das waren sie nicht,
sie waren von der Katastrophenbehörde FEMA. Das weiß ich noch, weil es in
dicken gelben Lettern hinten auf ihren Jacken stand. Mein Daddy hatte Verwandte
unten in New Orleans; er war da aufgewachsen, bis
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