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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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hoch über der Mauer
gearbeitet. Eines Nachts kam ein Schwarm von sechs Virais - sie waren immer in
Dreiergruppen unterwegs - über die Südmauer herein. Als Läuferin hatte Alicia
nicht die Aufgabe, sie abzuwehren. Eine Läuferin hatte zu laufen und Alarm zu
schlagen. Aber stattdessen erwischte sie den ersten mit einem Wurfmesser
mitten durch den Sweetspot. Dann spannte sie ihre Armbrust und erlegte den
zweiten noch in der Luft. Den dritten tötete sie mit dem Messer aus nächster
Nähe. Sie nutzte sein Gewicht, um die Klinge unter sein Brustbein zu stoßen,
als er auf sie fiel, und sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie den Gestank
der Nacht riechen konnte, der sie anwehte, als er starb. Die übrigen drei
stoben auseinander und verschwanden über die Mauer in der Dunkelheit.
    Noch nie hatte irgendjemand drei auf einmal ganz
allein zur Strecke gebracht - und sie war ein fünfzehnjähriges Mädchen. Von
diesem Tag an hatte Alicia Wache stehen dürfen, und mit zwanzig hatte sie den
Rang eines Second Captain. Alle rechneten damit, dass Lish, wie man sie nannte,
zum First Captain aufsteigen würde, wenn Soo Ramirez ihr Amt niederlegte.
    Sie hatte Peter eines Nachts unter den
Scheinwerfern davon erzählt, als sie beide Wache gestanden hatten. Bei dem
dritten Viral war es passiert - da hatte sie losgelassen. Alicia war Peters
Vorgesetzte, doch die beiden verstanden sich so gut, dass Fragen der Hierarchie
keine Rolle spielten. Deshalb wusste er, dass Alicia es ihm nicht erzählte, um
aufzutrumpfen. Sie erzählte es, weil sie Freunde waren. Nicht beim ersten oder
beim zweiten, sagte sie, aber beim dritten. Da hatte sie gewusst, ohne jeden
Zweifel gewusst, dass sie sterben würde. Und das Seltsame war: Als ihr das
klargeworden war, war es kinderleicht gewesen, das Messer zu ziehen. Alle
Angst war verflogen. Ihre Hand fand die Klinge, als wollten die beiden
zueinander, und als die Bestie auf sie herabfiel, dachte sie nur: Na,
nur zu! Wenn ich jetzt die Welt schon verlasse, kann ich dich genauso gut mit
auf die Reise nehmen. Als wäre es eine
Tatsache. Als hätte sie es bereits getan.
    Die Herde war schon draußen, als Alicia mit
ihrem Pferd zurückkam. Am Sattel hingen eine kleine Stofftasche und eine
Wasserflasche. Alicia hatte keine ordentliche Wohnung. Es gab zwar viele
leerstehende Häuser, aber sie bevorzugte einen kleinen Blechschuppen hinter
dem Arsenal, wo sie eine Pritsche aufgestellt und ihre paar Habseligkeiten
untergebracht hatte. Peter wusste nicht, ob sie jemals mehr als zwei Stunden
am Stück geschlafen hatte, und wenn er sie suchte, schaute er in diesem
Schuppen immer zuletzt nach, denn sie war ständig auf der Mauer. Sie trug jetzt
einen Langbogen bei sich; der war leichter als eine Armbrust und beim Reiten
weniger lästig. Aber einen Armschutz hatte sie nicht angelegt. Der Bogen sollte
nur Eindruck machen. Theo bot ihr an, die Führung zu übernehmen, aber Alicia
lehnte ab und nahm Mausamis Platz in der Nachhut ein. »Kümmert euch nicht um
mich. Ich will nur frische Luft schnappen«, sagte sie und lenkte ihr Pferd an
Arlos Seite. »Das hier ist dein Ritt, Theo. Gibt keinen Grund, die Befehlskette
durcheinanderzubringen. Außerdem reite ich lieber mit diesem großen Kerl hier.
Sein Geplauder hält mich wach.«
    Peter hörte, wie sein Bruder seufzte. Er wusste,
dass Alicia ihm manchmal auf die Nerven ging. Sie
sollte ein bisschen vorsichtiger sein, hatte er schon mehr als
einmal zu Peter gesagt, und er hatte recht: Ihre Zuversicht grenzte an
Leichtfertigkeit. Theo drehte sich im Sattel um und schaute an Finn und Rey
vorbei. Die zwei hatten die ganze Szene mit wortloser Gleichgültigkeit
verfolgt. Wer mit wem ritt, war Sache der Wächter. Was interessierte es sie?
    »Ist es dir recht, Arlo?«
    »Na klar.«
    »Weißt du, Arlo«, sagte Alicia, und ihre
Ausgelassenheit ließ ihre Stimme heller klingen, »ich habe mich immer gefragt,
ob es stimmt, dass Hollis sich den Bart abrasiert hat, damit Leigh euch beide
auseinanderhalten kann.«
    Es war allgemein bekannt, dass die Brüder Wilson
als junge Männer mehr als einmal die Freundinnen getauscht hatten, angeblich
immer völlig unbemerkt.
    Arlo lächelte vielsagend. »Da musst du Leigh
fragen.«
    Aber jetzt war keine Zeit mehr zum Reden. Sie
hatten sich bereits verspätet. Theo gab den Befehl zum Abmarsch, doch als sie
sich dem Tor näherten, hörten sie hinter sich jemanden rufen.
    »Anhalten! Haltet am Tor!«
    Peter drehte sich um und sah, dass Michael
Fisher

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