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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Halskette
aus schimmernden, spitzen Objekten, die sich als Zähne erwiesen - Viralzähne.
Wenn er jemals einen anderen Namen gehabt hatte, kannte ihn niemand. Er hieß
einfach »der Colonel«. Manche sagten, er sei ein Überlebender aus der
Baja-Siedlung, und andere meinten, er habe zu einer Gruppe nomadischer Jäger
gehört. Wenn Alicia seine wahre Geschichte kannte, hatte sie nie jemandem
etwas davon erzählt. Er hatte nie geheiratet und wohnte für sich allein in der
kleinen Hütte, die er sich am Fuße der Ostmauer aus Holzabfällen gebaut hatte.
Die Aufforderung, in die Wache einzutreten, hatte er immer zurückgewiesen und
arbeitete lieber im Bienenhaus. Es ging das Gerücht, er habe einen geheimen Ausgang,
den er benutzte, um auf die Jagd zu gehen; dann schleiche er sich vor dem
Morgengrauen aus der Kolonie, um Virais zu erlegen, wenn die Sonne aufging.
Aber niemand hatte ihn tatsächlich dabei gesehen.
    Es gab andere wie ihn, Männer und Frauen, die
aus diesem oder jenem Grund niemals heirateten, sondern für sich blieben, und
der Colonel hätte in der Anonymität eines Einsiedlers versinken können, wären
da nicht die Ereignisse der Dunklen Nacht gewesen. Peter war damals gerade
sechs Jahre alt gewesen, und er war nicht sicher, ob seine Erinnerungen auf
der Wirklichkeit beruhten, oder ob es nur Geschichten waren, die andere Leute
ihm erzählt hatten und die seine eigene Fantasie im Laufe der Jahre
ausgeschmückt hatte. Aber an das Erdbeben selbst konnte er sich erinnern.
Erdbeben gab es öfter, allerdings nicht solche wie das, das den Berg an dem
Abend erschüttert hatte, als die Kinder gerade zu Bett gehen sollten: ein
einzelner, massiver Stoß, gefolgt von einem Beben, das eine volle Minute
dauerte und so heftig war, dass es schien, als wolle die Erde
auseinanderreißen. Peter erinnerte sich an das Gefühl der Hilflosigkeit, als er
hochgehoben und wie ein Blatt im Wind hin und her geschleudert worden war, an
die lauten Schreie, an das Gebrüll der Lehrerin und den Höllenlärm, an den Geschmack
von Staub in seinem Mund, als die Westwand der Zuflucht einstürzte. Das Erdbeben
hatte kurz nach Sonnenuntergang begonnen, und die Stromversorgung war
ausgefallen. Als die ersten Virais in die äußere Umgrenzung eindrangen, konnte
man nur noch das Schussfeld beleuchten und sich in die Reste der Zuflucht
zurückziehen. Viele der Opfer starben verschüttet unter den Trümmern ihrer
Häuser. Am nächsten Morgen waren 162 Seelen verloren, darunter neun ganze
Familien, dazu die halbe Herde, die meisten Hühner und alle Hunde.
    Viele von denen, die überlebt hatten, verdankten
es dem Colonel. Er allein hatte die Sicherheit der Zuflucht verlassen und sich
auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Viele der Verletzten hatte er auf dem
Rücken ins Lagerhaus geschleppt, und dort hatte er schließlich Stellung bezogen
und die Virais die Nacht hindurch abgewehrt. Zu diesen Leuten hatten auch John
und Angel Donadio gehört, Alicias Eltern. Von den fast zwei Dutzend Geretteten
waren sie als einzige gestorben. Am nächsten Morgen war der Colonel, von oben
bis unten voller Blut und Staub, in die Ruinen der Zuflucht gekommen, hatte
Alicia bei der Hand genommen und schlicht verkündet: »Um dieses Mädchen werde
ich mich kümmern.« Dann war er mit ihr im Schlepptau hinausmarschiert. Keiner
der anwesenden Erwachsenen hatte noch genug Kraft gehabt, um Einwände zu
erheben. Die Donadios waren Walker, keine Erste Familie, und wenn jemand bereit
war, die Kleine zu sich zu nehmen, schien das nur vernünftig zu sein. Es
stimmte aber auch - so sagten es die Leute jedenfalls damals -, dass sie in der
Fügsamkeit des kleinen Mädchens die Hand des Schicksals gespürt hätten, fast
so, als handele es sich um die Begleichung einer kosmischen Schuld. Alicia war
für ihn bestimmt; so sah es jedenfalls aus.
    In der Hütte des Colonels am Fuße der Mauer und
später, als sie heranwuchs, im Ausbildungslager, brachte er ihr alles bei, was
er draußen in den Darklands gelernt hatte - nicht nur das Kämpfen und Töten,
sondern auch das Loslassen. Denn das war es, was man tun musste. Wenn die
Virais kamen, erklärte der Colonel ihr, musste man sich sagen: Ich bin schon
tot. Das kleine Mädchen hatte seine Lektionen gelernt. Mit acht Jahren hatte
sie ihre Lehre bei der Wache begonnen, und im Umgang mit Bogen und Messer
hatte sie alle andern schnell hinter sich gelassen. Mit vierzehn hatte sie
bereits als Läuferin zwischen den einzelnen Feuerposten

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