Cronin, Justin
rhetorische
Frage, der Versuch, die Stille mit Worten zu füllen. Irgendetwas war passiert,
denn sonst wären Zander und Caleb inzwischen längst wiederaufgetaucht. Peter
dachte an seinen Vater, und vermutlich tat Theo es auch: Demo Jaxon, der auf
das Turbinenfeld hinausgeritten und spurlos verschwunden war. Wie lange mochten
sie in jener Nacht gewartet haben, bevor sie das Tor vor Demo Jaxon
verschlossen hatten?
Peter hörte Schritte hinter sich. Alicia kam von
der Luke auf sie zu. Sie blieb neben ihnen stehen und schaute hinaus über das
Feld, das allmählich in der Dunkelheit versank. Sie standen noch einen
Augenblick lang wortlos da und sahen zu, wie die Nacht sich über das Tal schob.
Als der Schatten des Berges die Hügel auf der anderen Seite erreichte, zog
Alicia ein Messer und wischte es am Saum ihres T-Shirts ab.
»Ich sag's nur ungern ...«
»Nicht nötig.« Theo drehte sich zu den beiden
um. »Okay, wir sind hier fertig. Schließen wir ab.«
Von-Tag-zu-Tag. So
nannten sie es. Nicht an die Vergangenheit zu denken, die allzu voll von
Verlust und Tod war, und nicht an die Zukunft, weil sie alle vielleicht keine
Zukunft hatten. Vierundneunzig Seelen lebten unter den Flutlichtscheinwerfern,
von Tag zu Tag.
Aber so war es für Peter nicht immer. In müßigen
Augenblicken auf Wache, wenn alles ruhig war, oder wenn er in seiner Koje lag
und auf den Schlaf wartete, dachte er oft unversehens an seine Eltern. Es gab
Leute in der Kolonie, die immer noch vom Himmel sprachen, von einem Ort
jenseits des körperlichen Daseins, zu dem die Seele nach dem Tod hinauffuhr,
aber mit dieser Vorstellung hatte er nie etwas anfangen können. Die Welt war
die Welt, ein Reich der Sinne, das man berühren, schmecken, fühlen konnte, und
Peter vermutete, dass die Toten, wenn sie sich überhaupt irgendwo hinbegaben,
in den Lebenden aufgingen. Vielleicht hatte die Lehrerin es ihm gesagt,
vielleicht war er auch selbst darauf gekommen. Aber so lange er zurückdenken
konnte, seit er aus der Zuflucht gekommen war und die Wahrheit über die Welt
erfahren hatte, war er davon überzeugt, dass es so war. Solange er seine Eltern
im Gedächtnis behalten konnte, würde ein Teil von ihnen weiterleben, und wenn
er selbst eines Tages stürbe, würden diese Erinnerungen zusammen mit ihm in
andere übergehen, die noch lebten. So würden sie alle - nicht nur Peter und
seine Eltern, sondern alle, die schon gegangen waren und die noch kommen würden
- immer weiterleben.
Die Gesichter seiner Eltern konnte er sich nicht
mehr vor Augen rufen. Sie waren als Erstes verschwunden, schon nach wenigen
Tagen. Wenn er an sie dachte, sah er sie weniger, als dass er sie fühlte. Es
war eine Woge von erinnerten Empfindungen, die ihn wie Wasser durchflutete.
Der sanfte Klang der Stimme seiner Mutter. Die Form ihrer Hände, blass und
feingliedrig, aber zugleich kraftvoll, wenn sie ihrer Arbeit im Krankenrevier
nachging, diesen und jenen berührte und Trost spendete, so gut es ging. Das
Knarren der Stiefel seines Vaters, wenn er abends die Leiter der Schutzmauer
hinaufstieg, wo Peter als Läufer zwischen den Posten unterwegs war. Und wie er
wortlos an ihm vorbeiging und ihm zum Gruß nur eine Hand auf die Schulter
legte. Die heiße, energiegeladene Atmosphäre des Wohnzimmers in den Tagen der
Langen Ritte, wenn sein Vater, sein Onkel und die anderen Männer sich
versammelten, um ihre Route zu planen. Und später dann der Klang ihrer Stimmen,
wenn sie bis tief in die Nacht hinein auf der Veranda ihren Selbstgebrannten Schnaps tranken und einander erzählten, was sie in den
Darklands gesehen hatten.
Das hatte Peter sich gewünscht: sich als Teil
von ihnen zu fühlen. Zu den Männern der Langen Ritte zu gehören. Aber er hatte
immer gewusst, dass es nie dazu kommen würde. Wenn er im Bett lag und ihre
Stimmen auf der Veranda hörte, ihren vollen, männlichen Klang, wusste er es,
weil er sich kannte. Irgendetwas fehlte ihm. Er wusste keinen Namen dafür, er
wusste nicht einmal, ob es einen Namen dafür gab. Es war mehr als nur Mut, mehr
als Aufopferung, obwohl beides ein Teil davon war. Das einzige Wort, das ihm
einfiel, war Größe. Das war es, was die
Männer der Langen Ritte besaßen. Und Peter wusste, wenn der Tag käme, an dem
einer der Jaxon-Söhne mit ihnen reiten durfte, dann wäre es Theo, den sein
Vater zum Tor rief. Peter würde zurückbleiben.
Auch seine Mutter hatte das gewusst. Seine
Mutter, die die Schmach seines Vaters und dann seinen letzten Ritt
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