Cronin, Justin
worden
waren? Vieles war einfach unverständlich. Zum Beispiel, warum manche sich der
Mauer näherten und andere es nicht taten. Warum einige - wie der, den sie an
der Straße gesehen hatten - es riskierten, am helllichten Tag auf die Jagd zu
gehen. Ob ihre Angriffe, wenn sie kamen, reine Zufallsereignisse waren oder ob
sie durch irgendetwas ausgelöst wurden. Unerklärlich war auch ihr typisches
Auftreten, immer in Dreiergruppen, wobei die individuellen Aktionen miteinander
koordiniert waren wie die Reime eines Gedichts. Man wusste nicht einmal, wie
viele eigentlich da draußen unterwegs waren und durch die Dunkelheit streiften.
Ja, die Kombination von Scheinwerfern und Mauer hatte die Kolonie fast hundert
Jahre lang zu einem sicheren Ort gemacht. Die Erbauer schienen den Feind gut
gekannt zu haben, oder doch wenigstens gut genug. Aber wenn Peter beobachtete,
wie ein Schwarm sich am Rand des Scheinwerferlichts bewegte, wie er aus der
Dunkelheit auftauchte und an der äußeren Umgrenzungslinie
entlangpatrouillierte, um dann wieder zu verschwinden, wohin auch immer - wenn
Peter das sah, hatte er jedes Mal das deutliche Gefühl, ein einzelnes Wesen zu
beobachten, das lebendig und beseelt war, ganz gleich, was die Lehrerin sagen
mochte. Den Tod verstand er: Im Leben war der Körper mit der Seele verbunden,
und im Tode trennten sie sich. Das hatte er in den letzten Stunden seiner
Mutter gelernt. Das Geräusch ihrer letzten rasselnden Atemzüge und dann die
plötzliche Stille - da hatte er gewusst, dass die Frau, die sie gewesen war,
nicht mehr existierte. Wie konnte irgendetwas ohne Seele weiterleben?
Sie erreichten die Rampe. Im Norden, vor den
Ausläufern der Berge, erkannte Peter durch die Staubschleier die
langgestreckten, flachen Umrisse der Empire Valley Outlet Mall. Er war schon
oft mit Abstaubertrupps da gewesen. Das Einkaufszentrum war im Laufe der Jahre
gründlich abgegrast worden, aber es war so riesig, dass man immer noch
brauchbare Sachen finden konnte. The Gap war leergeräumt, J. Crew auch, genau
wie Williams Sonoma, REI und die meisten Geschäfte am südlichen Ende in der
Nähe des Atriums, aber es gab eine große Sears-Filiale mit Fenstern, die guten
Schutz boten, und ein JC Penney mit einem Außeneingang, durch den man schnell
hinauskommen konnte, und in beiden fanden sich immer noch brauchbare Sachen wie
Schuhe und Werkzeug und Kochtöpfe. Ihm fiel ein, dass er vielleicht etwas für
Maus suchen könnte, und vielleicht hatte Theo den gleichen Gedanken. Aber jetzt
war dafür keine Zeit.
Im Sand am Anfang der Zufahrtsrampe stand eine
Entfernungstafel, verbogen vom hartnäckigen Wind:
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Alicia ritt zu den andern zurück. »Drunter ist
alles klar. Wir sollten uns beeilen.«
Die Straße war passabel, und sie kamen wieder
gut voran. Ein glühend heißer Wind wehte durch den Pass herunter. Peters Haut
und seine Augen waren trocken wie Zunder kurz vor dem Entflammen. Ihm wurde
bewusst, dass er kein Wasser mehr gelassen hatte, seit sie haltgemacht hatten,
um die Pferde zu tränken, und er ermahnte sich, aus seiner Flasche zu trinken.
Theo suchte mit dem Fernglas die Gegend vor ihnen ab. Mit einer Hand hielt er
locker den Zügel. Sie waren jetzt so nah herangekommen, dass Peter die
Windräder deutlich genug sehen konnte, um zu erkennen, welche sich drehten und
welche nicht. Er versuchte, die zu zählen, die es taten, aber er verlor schnell
die Übersicht.
Der Schatten des Berges legte sich schon über
das Tal, als sie die Östliche Straße verließen. Endlich kam ihr Ziel in Sicht:
ein Betonbunker, halb im Talboden versenkt, umgeben von einem hohen
Elektrozaun, auf dem so viel Strom war, dass alles, was ihn berührte, sofort
verbrutzelte. Und dahinter die Starkstromleitung, eine mächtige, rostfarbene
Röhre, die sich östlich am Berg hinaufzog, an dieser Wand aus weißem Fels, die
ein natürliches Hindernis bildete. Theo stieg ab und nahm den Lederriemen mit
dem Schlüssel von seinem Hals. Der Schlüssel öffnete ein Metallkästchen an
einem Pfosten. Es gab zwei solche Kästchen, eins auf jeder Seite des Zauns.
Darin war ein Schalter für den Strom und ein zweiter, der das Tor öffnete. Theo
schaltete den Strom ab und trat zurück, als das Tor aufschwang.
»Los.«
Neben dem Kraftwerk war ein kleiner offener
Schuppen, von einem Blechdach überschattet, mit Trögen für die Pferde und einer
Pumpe. Alle tranken gierig und gossen sich das Wasser mit hohlen Händen
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