Cronin, Justin
mit
stoischem Gleichmut ertragen hatte, während jeder die Wahrheit kannte und
niemand wagte, sie auszusprechen. Seine Mutter, die am Ende, als der Krebs ihr
schon alles andere genommen hatte, noch immer kein böses Wort über ihren Vater
gesprochen hatte, der sie alle verlassen hatte. Er
lebt jetzt in seiner eigenen Zeit. Es war Sommer gewesen,
ein Sommer wie jetzt, mit langen, glühend heißen Tagen, als sie sich ins Bett
gelegt hatte. Theo war damals schon Vollwache - noch kein Captain, aber das
sollte bald kommen. Die Aufgabe, ihre Mutter zu pflegen, war an Peter
gefallen, und er hatte Tag und Nacht bei ihr gesessen, ihr beim Essen und
Ankleiden und sogar beim Waschen geholfen, eine peinliche Intimität, die sie
beide ertragen hatten, weil es unvermeidlich gewesen war. Sie hätte sich ins
Krankenrevier legen können, wie es üblich war. Aber seine Mutter war die Erste
Krankenschwester, und wenn Prudence Jaxon zu Hause in ihrem Bett sterben
wollte, dann würde niemand ihr widersprechen.
Wenn Peter an diesen Sommer dachte, an diese
langen Tage und endlosen Nächte, dann war es, als habe er diesen Abschnitt
seines Lebens nie ganz hinter sich gelassen. Es erinnerte ihn an eine
Geschichte, die die Lehrerin ihnen einmal erzählt hatte: Eine Schildkröte kroch
auf eine Mauer zu. Jeder Schritt war jeweils nur halb so groß wie der
vorherige, und auf die Weise kam sie nie ans Ziel. So hatte Peter sich gefühlt,
als er seiner Mutter beim Sterben zusah. Drei Tage lang hatte sie in einem
unruhigen Fieberschlaf verbracht, aus dem sie immer wieder erwachte, um gleich
wieder wegzudämmern. Sie hatte kaum ein Wort gesprochen und nur die einfachsten
Fragen beantwortet, die für ihre Pflege nötig waren. Ab und zu hatte sie einen
Schluck Wasser getrunken, aber das war alles. Sandy Chou, die diensthabende
Krankenschwester, war an jenem Nachmittag da gewesen, und sie hatte Peter
gesagt, er solle sich auf das Ende gefasst machen. Es war dunkel im Zimmer; das
Licht von den Scheinwerfern wurde von den Ästen des Baumes gedämpft, der vor
dem Fenster stand. Schweiß glänzte auf ihrer bleichen Stirn, und ihre Hände -
die Hände, denen Peter im Krankenrevier stundenlang bei der Arbeit zugesehen
hatte - lagen reglos neben ihr. Seit es Abend geworden war, hatte Peter das
Zimmer nicht mehr verlassen, damit sie nicht allein war, wenn sie aufwachte.
Dass der Tod nur noch wenige Stunden entfernt war, wusste Peter. Sandy hatte
keinen Zweifel daran gelassen. Aber eigentlich sagte es ihm die Reglosigkeit
ihrer Hände auf der Decke, die ihre lange, geduldige Arbeit eingestellt
hatten.
Wie nahm man Abschied? Würde es sie erschrecken,
wenn er die Worte ausspräche? Und was würde die Stille ausfüllen, die danach
käme? Bei seinem Vater hatte er keine Gelegenheit dazu gehabt, und in mancher
Hinsicht war dies das Schlimmste gewesen. Er war einfach verschwunden, im
Nichts. Was hätte er zu seinem Vater gesagt, wenn er es gekonnt hätte? Ein
selbstsüchtiger Wunsch, aber er dachte es trotzdem: Nimm
mich, hätte er gesagt. Nicht
Theo. Mich. Bevor du gehst, entscheide dich für mich. Die
Szene stand glasklar vor seinem geistigen Auge: Die Sonne ging auf, sie saßen
auf der Veranda, nur sie beide, sein Vater schon für den Ritt gekleidet. Er
klappte den Kompass mit dem Daumen auf und wieder zu, wie es seine Gewohnheit
war. Aber die Szene hatte kein Ende. Nie hatte er sich vorstellen können, was
sein Vater geantwortet hätte.
Und jetzt starb hier seine Mutter. Wenn der Tod
ein Raum war, den die Seele betrat, dann stand sie auf der Schwelle, und
trotzdem fand Peter nicht die richtigen Worte, um ihr zu sagen, was er
empfand: dass er sie liebte, und dass sie ihm fehlen würde, wenn sie fort wäre.
In ihrer Familie war es immer so gewesen - Peter war ihr Sohn, wie Theo der
Sohn des Vaters war. Darüber wurde nie gesprochen; es war eine schlichte
Tatsache. Peter wusste, dass es Fehlgeburten gegeben hatte, und mindestens ein
Baby war zu früh zur Welt gekommen, aber etwas hatte mit ihm nicht gestimmt,
und es war nach wenigen Stunden gestorben. Er glaubte, es sei ein Mädchen
gewesen. Doch das war passiert, als Peter selbst noch klein gewesen war, noch
in der Zuflucht, und deshalb wusste er nichts Genaues. Vielleicht war es das,
was fehlte - nicht etwas in ihm, sondern in ihr -, und vielleicht war es der Grund, weshalb er die Liebe
seiner Mutter immer so stark gespürt hatte. Er war derjenige, den sie behalten
wollte.
Das erste weiche Licht des Morgens
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