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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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erfüllte die
Fenster, als er hörte, wie ihre Atmung sich veränderte, in ihrer Brust stecken
blieb wie ein Schluckauf. Eine schreckliche Sekunde lang glaubte er, der
Augenblick sei gekommen, aber dann öffnete sie die Augen.
    Mama?, sagte er und nahm ihre Hand. Mama, ich
bin hier.
    Theo, sagte sie.
    Konnte sie ihn sehen? Wusste sie, wo er war?
Mama, sagte er, ich bin Peter. Soll ich Theo holen?
    Sie schien in sich hineinzuschauen, in eine
Tiefe, die unendlich und grenzenlos war, ein Ort der Ewigkeit. Gib
acht auf deinen Bruder, Theo, sagte sie. Er
ist nicht stark wie du. Dann schloss sie die
Augen und öffnete sie nicht mehr.
    Er hatte seinem Bruder nie etwas davon gesagt.
Es hatte keinen Sinn, fand er. Manchmal dachte er, vielleicht habe er sich
verhört, oder vielleicht seien diese letzten Worte dem Delirium der Krankheit
entsprungen. Aber das war Wunschdenken. Sosehr er sich auch bemühte, es umzudeuten,
es war doch völlig klar, was sie gemeint hatte. Nach all den langen Tagen und
Nächten, in denen er sie gepflegt hatte, war es Theo gewesen, den sie in ihrer
letzten Stunde an ihrem Bett gesehen hatte. Und an den sie die letzten Worte
ihres Lebens gerichtet hatte.
    Über die verschwundene Mannschaft des Kraftwerks
fiel kein Wort mehr. Sie fütterten die Tiere, aßen dann selbst und zogen sich
in die Unterkunft zurück, einen engen, übelriechenden Raum mit Etagenbetten
und schmutzigen, mit muffigem Stroh gefüllten Matratzen. Als Peter sich
hinlegte, schnarchten Finn und Rey schon. Peter war es nicht gewohnt, so früh
zu Bett zu gehen, aber er war jetzt seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen
und döste bald ein.
    Verwirrt wachte er ein paar Stunden später
wieder auf. Seine Gedanken schwammen immer noch in den Strömungen angstvoller
Träume. Seine innere Uhr sagte ihm, dass es Halbnacht oder später war. Die Männer
schliefen alle, doch Alicias Koje war leer. Er stand auf und tappte durch den
dunklen Flur in den Kontrollraum, und dort saß sie an dem langen Tisch und
blätterte im Licht der Kontrolltafel in einem Buch. Die Uhr zeigte 02:33.
    Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich weiß
nicht, wie du schlafen konntest bei dem Geschnarche.«
    Er setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
»Habe ich ja nicht, nicht richtig jedenfalls. Was liest du da?«
    Sie klappte das Buch zu und rieb sich die Augen.
»Keine Ahnung. Ich hab's im Lagerraum gefunden. Da stehen Kisten über Kisten
davon.« Sie schob es über den Tisch. »Sieh es dir an, wenn du willst.«
    Wo die wilden Kerle wohnen, stand
auf dem Cover. Es war ein dünnes Buch und enthielt hauptsächlich Bilder: Ein
kleiner Junge in einem Tierkostüm mit Ohren und Schwanz verfolgte einen kleinen
weißen Hund mit einer Gabel. Peter blätterte die spröden, staubig riechenden
Seiten um, eine nach der andern. Bäume wuchsen im Zimmer des Jungen, dann kam
eine Mondnacht, dann eine Reise über das Meer zu einer Inseln mit lauter
Ungeheuern.
    »Diese ganze Sache, dass man ihnen in die Augen
schauen soll«, sagte Alicia, und dann hielt sie sich den Handrücken vor den
Mund und gähnte. »Ich weiß nicht, was das nützen soll.«
    Peter klappte das Buch zu und legte es zur
Seite. Er konnte sich auf all die Bilder keinen Reim machen, aber so war es mit
den meisten Dingen aus der Zeit Davor. Wie hatten die Menschen damals gelebt?
Was hatten sie gegessen, getrunken, was für Kleider getragen? Wie hatten sie
sich verhalten? Waren sie im Dunkeln herumgelaufen, als wäre nichts dabei? Wenn
es keine Virais gegeben hatte, wovor hatten sie dann Angst gehabt?
    »Ich glaube, das ist alles erfunden.« Er zuckte
die Achseln. »Nur eine Geschichte. Ich glaube, der Junge träumt.«
    Alicia zog die Brauen hoch, und ihr Blick sagte:
Wer weiß? Wer kann schon sagen, wie die Welt früher war?
    »Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, dass du
aufwachst«, erklärte sie. Sie stand auf und hob eine Laterne vom Boden auf.
»Ich muss dir etwas zeigen.«
    Sie führte ihn zurück, an den Unterkünften
vorbei und in einen der Lagerräume. Auf Metallregalen stapelte sich Material:
öliges Werkzeug, Rollen von Draht und Lötzinn, Plastikcontainer mit Wasser und
Alkohol. Alicia stellte die Laterne auf den Boden, trat an eins der Regale und
fing an, seinen Inhalt auf den Boden zu räumen.
    »Und? Steh nicht einfach herum.«
    »Was machst du da?«
    »Na was schon! Und sprich nicht so laut. Ich
will die andern nicht wecken.«
    Als das ganze Regal ausgeräumt war, befahl Alicia
ihm, sich an das eine Ende

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