Cronin, Justin
Mindestens.
Dann würde er bewegungsunfähig auf dem Boden
liegen und auf die Virais warten. Er wollte nicht so enden. Sein Ellenbogen
blutete, und eine Blutspur folgte ihm von der Tür bis zur Dachkante. An Schmerz
konnte er sich nicht erinnern, aber offenbar hatte er sich geschnitten, als er
die Glasscheibe vor der Feueraxt eingeschlagen hatte. Auf ein bisschen Blut kam
es jetzt allerdings kaum noch an. Zumindest hatte er die Axt.
Er drehte sich zur Tür um und hob die Axt
schlagbereit über den Kopf, als ein Schrei von unten heraufkam.
»Spring!«
Alicia und Caleb kamen im Galopp um die Ecke
geritten. Alicia winkte ihm zu. Sie stand vorgebeugt in den Steigbügeln.
»Spring!«
Er dachte an Theo, der in die Höhe gerissen
worden war. Er dachte an seinen Vater, der am Ufer des Meeres gestanden hatte,
und er dachte an das Meer und die Sterne. Er dachte an das Mädchen, das ihn
mit seinem Körper beschützt hatte, und er dachte an ihren warmen, süßen Atem in
seinem Nacken und auf seiner Wange, wo sie ihn geküsst hatte.
Seine Freunde riefen und winkten, die Virais
kamen die Treppe herauf, und die Axt lag in seiner Hand.
Nicht jetzt, dachte
er. Noch nicht. Er
schloss die Augen und sprang.
23
Es war wieder Sommer, und sie war allein. Allein
bis auf die Stimmen, die sie hörte, überall um sich herum.
Sie erinnerte sich an Menschen. Sie erinnerte
sich an den Mann .
Sie erinnerte sich an den anderen Mann und seine Frau und den Jungen und dann
an die Frau. Sie erinnerte sich an manche besser als an andere. Sie erinnerte
sich, dass niemand mehr da gewesen war. Sie erinnerte sich, dass sie eines
Tages gedacht hatte: Ich bin allein. Da ist kein Ich außer mir. Sie lebte im
Dunkel. Sie gewöhnte sich an das Tageslicht, obwohl das nicht leicht war. Eine
Zeitlang tat es weh und machte sie krank.
Sie ging und ging. Sie folgte den Bergen. Der Mann hatte
ihr gesagt, sie solle den Bergen folgen, solle laufen und immer weiter laufen,
aber dann eines Tages waren die Berge zu Ende gewesen. Die Berge waren nicht
mehr da. Sie fand sie nicht mehr wieder, nicht dieselben. An manchen Tagen
ging sie nirgendwo hin. Manche Tage waren Jahre. Sie lebte hier und da, mit
diesen und jenen, mit dem Mann und seiner Frau und dem Jungen und dann mit der
Frau und dann mit niemandem. Manche Leute waren gut zu ihr, bevor sie starben.
Andere nicht. Sie sei anders, sagten sie. Sie sei nicht wie sie, und sie
gehöre nicht zu ihnen. Sie war für sich und allein, und es gab keine andern wie
sie auf der Welt. Die Leute schickten sie weg, oder sie taten es nicht, aber am
Ende starben sie immer.
Sie träumte. Sie träumte von den Stimmen und dem Mann .
Eine Zeitlang, Monate oder Jahre, hörte sie den Mann im
Heulen des Windes und im Rascheln der Sterne, wenn sie nur zuhörte, und dann
erwachte in ihrem Herzen die Sehnsucht nach seiner Fürsorge. Im Laufe der Zeit
jedoch vermischte sich seine Stimme in ihrem Kopf mit den Stimmen der andern,
der Träumenden, die da waren und zugleich nicht da waren, wie die Dunkelheit
ein Ding und doch kein Ding war, etwas Anwesendes und zugleich etwas
Abwesendes. Die Welt war eine Welt aus träumenden Seelen, die nicht sterben
konnten. Sie dachte: Da ist der Boden unter meinen Füßen, da ist der Himmel
über meinem Kopf, da sind die leeren Gebäude und der Wind und der Regen und die
Sterne und überall die Stimmen. Die Stimmen und die Frage. Wer
bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?
Sie hatte keine Angst vor ihnen, nicht wie der Mann , und wie die andern,
der Mann und seine Frau und der Junge, und dann die Frau. Sie hatte versucht,
die Träumenden von dem Mann wegzuführen, doch sie waren ihr gefolgt mit ihrer
Frage, die sie hinter sich her schleppten wie eine Kette, wie der Geist, Jacob
Marley, von dem sie in einer Geschichte gelesen hatte. Eine Zeitlang glaubte
sie, sie seien auch Geister, aber das waren sie nicht. Sie hatte keinen Namen
für sie. Sie hatte auch keinen Namen für sich selbst, für das Ding, das sie
war. Eines Nachts wachte sie auf und sah sie um sich herum, ihre notleidenden
Augen, die im Dunkeln glühten wie Kohlen. Sie erinnerte sich an den Ort, denn
es war eine Scheune gewesen, und draußen war es kalt, und es regnete. Ihre
Gesichter drängten sich um sie herum, ihre träumenden Gesichter, so traurig
und verloren wie die einsame Welt, durch die sie ging. Sie wollten, dass sie es
ihnen sagte, dass sie die Frage beantwortete. Sie konnte ihren Atem riechen,
den Atem der Nacht und der Frage,
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