Cronin, Justin
vor gut zwei Wochen den großen weiblichen Viral mit dem auffälligen
Haarschopf getötet hatte. Die geborstene Fuge, die ihr den Aufstieg ermöglicht
hatte, war inzwischen repariert worden, und die drei hatten keinen Halt an der
Mauer gefunden, aber anscheinend war das auch nicht ihr Ziel gewesen.
Inzwischen war die Wache in völliger Unordnung, und alle rannten zu Plattform
sechs. Unter einem Hagel von Pfeilen und Bolzen hatten die drei Virais immer
wieder versucht, heraufzusteigen, und unterdessen war ein dritter Schwarm -
vielleicht ein Teil des zweiten, von dem er sich getrennt hatte, vielleicht
auch ein separater Schwarm - bei der unbemannten Plattform neun über die Mauer
gekommen.
Sie hielten geradewegs auf die Wachleute zu.
Es war eine Schlacht. Ein anderes Wort gab es
dafür nicht. Drei weitere Wächter waren tot, bevor der Schwarm zurückgetrieben
werden konnte: Gar Phillips, Aidan Strauss und Kip Darreil, der Läufer, der die
erste Sichtung am Rand des Schussfelds gemeldet hatte. Eine Vierte, Sunny
Greenberg, die ihren Posten am Gefängnis verlassen hatte, um den Verteidigern
zu helfen, wurde vermisst und war vermutlich tot. Unter den Verschollenen - und
hier stockte Ian mit tiefbekümmertem Blick, weil er anscheinend nicht wusste,
wie er es erklären oder auch nur aussprechen sollte - war auch Old Chou.
Constance war früh am Morgen aufgewacht, und er war nicht da gewesen. Seitdem
hatte ihn niemand mehr gesehen. Es gab zwar keinen unmittelbaren Hinweis
darauf, aber wahrscheinlich hatte er mitten in der Nacht sein Haus verlassen,
um zur Mauer zu gehen, wo er zusammen mit den andern gefallen war. Kein
einziger Viral war getötet worden. Das war's, sagte Ian. Mehr wissen wir nicht.
Irgendetwas ging hier vor, und die Leute spürten
es alle. Noch nie hatten sie einen Angriff von dieser taktischen Finesse
erlebt. Am ehesten war er vergleichbar mit der Dunklen Nacht, doch selbst
damals hatte der Sturm der Virais keinerlei Organisation erkennen lassen. Als
das Licht ausgegangen war, war Peter mit Alicia vom Trailerpark zur Mauer
gelaufen, um zu kämpfen wie alle andern, aber Ian hatte sie beide in die
Zuflucht geschickt, die in dem Durcheinander ungeschützt geblieben war. Was
sie gesehen und gehört hatten, war durch die Entfernung abgemildert und gerade
deshalb zugleich verschlimmert worden. Peter wusste, er hätte dort sein müssen.
Er gehörte auf die Mauer.
Eine Stimme erhob sich über das Gemurmel der
Menge. »Was ist mit dem Kraftwerk?«
Es war Milo Darreil. Er hielt seine Frau Penny
im Arm.
»Soweit wir wissen, ist es immer noch sicher,
Milo«, sagte Ian. »Michael sagt, der Strom fließt noch.«
»Aber du hast gesagt, es gab eine Überspannung!
Jemand sollte hinunterreiten, um nachzusehen. Und wo zum Teufel steckt
Sanjay?«
Ian zögerte. »Dazu wollte ich noch kommen, Milo.
Sanjay ist krank. Einstweilen fungiert Walter als Oberhaupt.«
»Walter? Das kann nicht dein Ernst sein.«
Walter schien wieder zu sich zu kommen. Er
straffte sich auf seinem Stuhl, hob den Kopf und starrte triefäugig in die
Versammlung. »Moment mal, verdammt ...«
Aber Milo schnitt ihm das Wort ab. »Walter ist
ein Säufer.« Seine Stimme wurde lauter, und er wurde kühner. »Ein Säufer und
ein Betrüger. Das weiß jeder. Wer hat hier wirklich die Führung, Ian? Du vielleicht?
Denn soweit ich sehen kann, hat sie niemand. Ich sage: Öffnet das Arsenal, und
lasst jeden auf die Mauer, der dort hinwill. Und lasst uns sofort jemanden zum
Kraftwerk hinunterschicken.«
Zustimmendes Gemurmel ging durch die Menge. Was
hat Milo bloß vor?, dachte Peter. Will er einen Aufstand anzetteln? Er warf
einen Blick zu Alicia hinüber. Sie starrte Milo eindringlich an. Ihre Haltung
war wachsam, und sie hielt die Hand griffbereit an ihrer Waffe. Augen überall.
»Es tut mir leid wegen deines Jungen«, sagte
Ian, »aber dies ist nicht der richtige Augenblick für kopflose Aktionen.
Überlass diese Angelegenheit der Wache.«
Aber Milo hörte nicht auf ihn. Er ließ den Blick
über die Versammlung wandern. »Ihr habt ihn gehört. Ian sagt, sie waren
organisiert. Tja, vielleicht müssen wir uns auch nur besser organisieren. Wenn
die Wache nichts unternimmt, dann müssen wir etwas tun, sage ich.«
»Milo, Menschenskind. Beruhige dich. Die Leute
haben Angst, und was du da machst, hilft uns nicht weiter.«
Sam Chou trat vor und redete als Nächster. »Sie
haben aus gutem Grund Angst. Caleb hat das Mädchen hereingelassen, und jetzt
sind -
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