Cronin, Justin
dunklen
Winkel unter einer der Stützstreben und überlegte, wie er es am besten
anstellte. Die nächste Leiter, zwanzig Meter links von ihm, führte zum
Feuerposten neun hinauf. Dort würde er niemals unbemerkt hinaufsteigen können.
Eine zweite Leiter befand sich auf halbem Wege zwischen Posten acht und sieben.
Sie wäre ideal, aber sein Kabel reichte nicht so weit.
Damit blieb nur eine Möglichkeit. Er musste eine
Kabelrolle über die hintere Leiter hinaufschaffen, oben auf der Mauer bis zu
der Stelle über dem Durchlass gehen, das Kabel oben befestigen und dann zum
Boden hinunterlassen, um es unten mit dem zweiten Kabel zu verbinden. Und das
alles, ohne dass ihn jemand fragte, was zum Teufel er da mache.
Michael kniete sich auf den Boden, nahm die
Drahtschere aus dem alten Segeltuchrucksack, den er als Werkzeugtasche
benutzte, und fing an, das Kabel abzuspulen und die Plastikumhüllung abzustreifen.
Die ganze Zeit lauschte er nach klackenden Schritten auf der Mauer über ihm,
die ihm signalisierten, dass ein Läufer vorüberkam. Als der Draht abisoliert
und wieder aufgerollt war, hatte er sie zweimal gehört, und er war halbwegs
sicher, dass er jetzt ein paar Minuten Zeit hatte, bevor der Nächste käme. Er
stopfte alles in seinen Rucksack, eilte zur Leiter und atmete einmal tief
durch, bevor er hochstieg.
Mit Höhen hatte Michael schon immer Probleme
gehabt - er stand nicht einmal gern auf einem Stuhl -, und in seiner
Entschlossenheit hatte er versäumt, diesen Umstand in seine Kalkulationen
einzubeziehen. Als er nach einem Aufstieg von zwanzig Metern, die ihm wie das
Zehnfache vorkamen, oben angekommen war, erwachten erste Zweifel an der
Klugheit dieses Unternehmens. Er hatte panisches Herzklopfen, und seine Glieder
hatten sich in Pudding verwandelt. Auf dem Laufsteg entlangzulaufen, einem
offenen Metallgitter über dem tiefen Abgrund, würde seine ganze Willenskraft
erfordern. In seinen Augen brannte der Schweiß, als er sich über die letzte
Sprosse hinaufzog und bäuchlings auf das Gitter rutschte. Im gleißenden Licht
der Scheinwerfer und ohne die gewohnten Bezugspunkte am Boden und am Himmel
erschien ihm alles größer und näher, lebendig und aufgebläht. Aber wenigstens
schien niemand ihn bemerkt zu haben. Er hob den Kopf. Plattform acht, hundert
Meter weit links von ihm, war anscheinend leer. Kein Wächter war auf dem
Posten. Warum das so war, wusste Michael nicht, aber er nahm es als
ermutigendes Zeichen. Wenn er sich beeilte, konnte er wieder im Lichthaus sein,
ohne dass jemandem etwas auffiel.
Er machte sich auf den Weg, und als er sein Ziel
erreicht hatte, ging es ihm schon besser, viel besser sogar. Seine Angst hatte
sich gelegt, und stattdessen empfand er eine belebende Zuversicht. Es würde
klappen. Plattform acht war immer noch leer; wer immer dort Dienst hatte, würde
wahrscheinlich einen Haufen Ärger bekommen, doch Michael hatte dadurch den
Spielraum, den er brauchte. Er kniete nieder und zog die Drahtspule aus dem
Rucksack. Der Laufsteg bestand aus einer Titanlegierung; er würde selbst einen
brauchbaren Leiter abgeben und seine vorteilhaften elektromagnetischen
Eigenschaften denen des Drahtes hinzufügen: Im Grunde verwandelte Michael die
gesamte Mauerkrone in eine gigantische Antenne. Mit dem Schraubenschlüssel
löste er eine der Schrauben, die den Gitterrost mit dem Rahmen verbanden, und
schlang den blanken Draht um das Gewinde. Dann ließ er die Rolle hinunterfallen.
Er hörte den dumpfen Aufschlag.
Amy, dachte er. Wer hätte gedacht, dass das
Mädchen von Nirgendwo einen Namen wie Amy hatte?
Michael konnte nicht wissen, dass Feuerplattform
acht leer war, weil die dort diensthabende Dana Curtis bereits tot am Fuße der
Mauer lag. Jimmy hatte sie umgebracht, gleich nachdem er Soo Ramirez getötet
hatte. Soo zu ermorden hatte er wirklich nicht vorgehabt; er hatte ihr nur
etwas sagen wollen. Goodbye? Es tut mir leid? Ich habe dich immer geliebt?
Aber mit der seltsamen Unausweichlichkeit dieser Nacht, der Nacht der Klingen
und der Sterne, hatte eins zum andern geführt, und jetzt waren sie alle zwei
nicht mehr da.
Galen Strauss, der von der anderen Seite
herankam, beobachtete diese Ereignisse wie durch das falsche Ende eines
Teleskops: ein ferner Klecks aus Farbe und Bewegung, weit außerhalb seines
Gesichtsfelds. Wäre in dieser Nacht jemand anders auf Plattform zehn gewesen,
jemand mit besseren Augen, der nicht an einem akuten Glaukom erblindete wie Galen
Strauss, hätte sich
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