Cronin, Justin
sich mittlerweile schon
Sorgen um Mausamis Gemütszustand machten. Überzeugender hätte sie das alles
nicht inszenieren können. Sogar die tränenreiche Szene am Haupttor, als Lish
sie gezwungen hatte, zurückzubleiben, würde sich bestens einfügen. Wie war es
möglich, dass wir es nicht haben kommen sehen?, würden die Leute kopfschüttelnd
sagen. Wir hätten es erkennen müssen. Denn wenn die Andere Sandy am nächsten
Morgen aufwachte und feststellte, dass Mausamis Pritsche leer war, würde sie
vielleicht noch ein paar Stunden abwarten, bevor sie begriff, wie merkwürdig
das war, aber dann würde sie es irgendwann melden, und andere würden sich auf
die Suche nach ihr machen und das Seil an der Mauer entdecken. Ein Seil, das
nur eins bedeuten konnte: Es war ein Seil ins Nirgendwo, ins Nichts. Eine
andere Schlussfolgerung konnte es nicht geben. Sie, die Wächterin Mausami Patal
Strauss, Ehefrau des Galen Strauss, Tochter von Sanjay und Gloria Patal, aus
Erster Familie stammend, schwanger und voller Angst, hatte beschlossen,
loszulassen.
Der Tag nahm seinen Lauf. Hier saß sie in der
Zuflucht, strickte Babysocken - sie war fast gar nicht vorangekommen -, hörte
dem Geplapper der Anderen Sandy zu und beschäftigte die Kleinen mit Spielen
und Geschichten und Liedern. Und die Neuigkeit von Mausamis Tod war eine
Tatsache, die nur noch nicht eingetroffen war - wie ein Pfeil, der, wenn er
einmal von der Sehne geschnellt war, sich nur noch ins Ziel bohren musste,
damit man wusste, wozu er gedacht war. Sie fühlte sich wie ein Geist. Als wäre
sie schon fort. Sie überlegte, ob sie ihre Eltern ein letztes Mal besuchen
sollte, aber was sollte sie sagen? Wie konnte sie sich von ihnen
verabschieden, ohne es auszusprechen? Sie musste auch an Galen denken, doch
nach dem letzten Abend wollte sie ihn in ihrem ganzen Leben nicht mehr
wiedersehen. Galen war der Letzte, der sie kümmerte. Er war doch nicht zum
Kraftwerk hinuntergeritten, hatte die Andere Sandy ihr erzählt und dabei
offenbar geglaubt, es sei eine gute Nachricht für sie. Galen gehörte zu den
Wächtern, die Alicia verhaftet hatten. Mausami fragte sich, ob er der Erste
sein würde, dem sie es sagten, oder der Zweite oder der Dritte. Würde er
traurig sein? Würde er weinen? Würde er sich vorstellen, wie sie sich an der
Mauer hinunterließ, und erleichtert sein?
Die Stricknadeln in ihren Händen bewegten sich
nicht mehr. Sie fragte sich, ob sie wirklich verrückt war. Wahrscheinlich. Sie
musste ja verrückt sein, wenn sie glaubte, dass Theo noch am Leben war. Aber
das war ihr egal.
Sie entschuldigte sich bei der Anderen Sandy,
die nur abwesend winkte - sie versuchte gerade, die Kleinen zur Ruhe zu bringen,
damit der Unterricht anfangen konnte -, und dann ging Mausami hinaus in den
Korridor und schloss die Tür hinter sich. Der Lärm der Kinder blieb zurück, und
die jähe Stille war selbst wie ein lautes Geräusch. Sie blieb kurz stehen. In
einem solchen Augenblick konnte man sich beinahe vorstellen, die Welt sei nicht
die Welt, es gebe noch eine andere Welt,
in der die Virais nicht existierten, wie sie für die Kleinen nicht existierten,
die in einem Traum von der Vergangenheit lebten. Wahrscheinlich hatte man die
Zuflucht überhaupt nur deshalb eingerichtet: damit es einen solchen Ort immer
noch gab. Mausamis Sandalen klatschten auf dem rissigen Linoleum, als sie den
Gang hinunterging, vorbei an den Türen der leeren Klassenzimmer und die Treppe
hinunter. Der Spiritusgeruch im Schlafsaal war immer noch so stark, dass ihr
die Augen tränten, doch als Mausami sich dort mit ihrem Strickzeug niederließ,
wusste sie, dass sie trotzdem den Rest des Tages hier verbringen würde. Sie
würde hier in der Stille sitzen und ihre Babysocken fertig stricken, damit sie
sie mitnehmen konnte.
38
Hätte er sagen sollen, welches der schlimmste
Augenblick seines Lebens gewesen sei, dann hätte Michael Fisher mit der Antwort
nicht gezögert: Es war der Augenblick, als die Lichter ausgingen.
Er hatte eben die Drahtspule von der Mauer
gerollt, als es passierte: Die jähe Dunkelheit war ein so totales, alles
verschlingendes, dreidimensionales Nichts, dass er einen schrecklichen
Augenblick lang dachte, er sei zusammen mit der Spule heruntergefallen und habe
es einfach nicht bemerkt, und dies sei die Dunkelheit des Todes. Aber dann
hörte er Kip Darrells Stimme - »Sichtung! Wir haben eine Sichtung! Heilige
Scheiße, die sind überall!« -, und blitzartig begriff er, dass er
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