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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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und Sam schauten zu Boden. Richards
deutete mit dem Kopf auf die offene Seitentür des Wagens. »Rein mit euch. Und
kein verdammtes Wort mehr.«
    In zerknirschtem Schweigen nahmen sie ihre
Plätze ein, und Richards fuhr weiter. Und im selben Moment begriff Grey. Er
brauchte sie nicht anzusehen, um es zu wissen. Die beiden andern, Jack und Sam
- sie waren genau wie er. Und noch etwas: Das Ding, das Richards in der Hand
gehalten hatte und das jetzt vermutlich im Hosenbund seines Trainingsanzugs
steckte oder wohl verwahrt im Handschuhfach lag, und der kleine tanzende
Lichtpunkt im Gras, rot wie ein einzelner Blutstropfen ...
    Grey wusste: Noch ein Schritt, und Richards
hätte ihn erschossen.
     
    Einmal im Monat bekam Grey eine
Depo-Provera-Injektion, und jeden Morgen nahm er eine winzige, sternförmige
Tablette: Spironolakton. Daran hielt er sich seit über sechs Jahren. Es war
Bedingung für seine Freilassung gewesen.
    Ehrlich gesagt machte es ihm nichts aus. Er
musste sich nicht mehr so oft rasieren; das war ein Vorteil. Das Spironolakton,
ein Anti-Androgen, verkleinerte seine Hoden; seit er es nahm, rasierte er sich
nur noch jeden zweiten oder dritten Tag, und das Barthaar war feiner und nicht
mehr so hart - fast wieder wie in seiner Jugend. Seine Haut war reiner und
weicher, trotz der Zigaretten. Und natürlich gab es den »psychologischen
Nutzen«, wie der Gefängnispsychiater es genannt hatte. Es kam alles nicht mehr
so sehr an ihn heran wie früher, als das Gefühl manchmal tagelang in ihm
wühlen konnte, als habe er eine Glasscherbe verschluckt. Er schlief wie ein
Stein und konnte sich nie an seine Träume erinnern. Was immer ihn dazu gebracht
hatte, an jenem Tag vor fünfzehn Jahren - an dem Tag, als alles angefangen
hatte - mit seinem Pick-up Truck anzuhalten, war längst verschwunden. Immer
wenn er seine Gedanken dorthin zurückwandern ließ, in jene Zeit damals und zu
allem, was danach gekommen war, überkam ihn ein übles Gefühl. Aber tatsächlich
war auch dieses Gefühl verschwommen wie ein unscharfes Foto. Es war, als ärgere
man sich über einen regnerischen Tag, an dem doch niemand etwas ändern konnte.
    Aber das Depo setzte seiner Blase höllisch zu,
denn es war ein Steroid. Dass er von niemandem gesehen werden wollte, gehörte
vermutlich einfach zu der neuen Art und Weise, wie sein Kopf jetzt
funktionierte. Der Seelenklempner hatte ihm davon erzählt, und wie alles andere
war es genau so gekommen, wie der Mann es vorausgesagt hatte. Die Unannehmlichkeiten
waren geringfügig, aber das Mittel half Grey, hier und da wegzuschauen. Bei
Kids zum Beispiel - deshalb war ihm die Arbeit auf der Ölplattform so sehr
entgegengekommen. Bei schwangeren Frauen. Bei Highway-Raststätten. Bei den
meisten Dingen im Fernsehen-Sendungen, die er früher angesehen hatte, ohne sich
etwas dabei zu denken, nicht nur bei Sexkram, sondern auch bei so Sachen wie
Boxen oder Nachrichten. Er musste sich mindestens zweihundert Meter von einer
Schule und Kindertagesstätte fernhalten, und das war ihm recht. Zwischen drei
und vier Uhr nachmittags fuhr er überhaupt nicht mit dem Wagen, wenn es sich
vermeiden ließ, und nahm einen Umweg von mehreren Blocks in Kauf, wenn er
dadurch einem Schulbus aus dem Weg gehen konnte. Sogar die Farbe Gelb konnte er nicht mehr ausstehen. Es war alles ein
bisschen irre, und ganz sicher hätte er es niemandem erklären können, doch es
war auf jeden Fall tausendmal besser als das Gefängnis. Und mehr als das: Es
war tausendmal besser als das Leben, das er vorher geführt hatte, als er sich
immer gefühlt hatte wie eine Bombe kurz vor der Explosion.
    Wenn sein Vater ihn jetzt sehen könnte, dachte
er. So wie er sich mit den Medikamenten fühlte, könnte Grey sich vielleicht
sogar dazu durchringen, ihm zu verzeihen. Der Knastpsychiater, Dr. Wilder,
hatte viel vom Verzeihen geredet. »Verzeihen« war wohl einfach sein Lieblingswort
Nummer eins und Spitzenreiter aller Zeiten gewesen. Im Verzeihen, erklärte
Wilder, bestand der erste Schritt auf der langen, langen Straße zur Genesung.
Es war eine Straße, aber manchmal war es auch eine Tür, und nur wenn man durch
diese Tür ging, konnte man seinen Frieden mit der Vergangenheit schließen und
seinem inneren Dämon ins Auge sehen, dem »schlechten Ich« im »guten Ich«. Beim
Reden benutzte Wilder oft seine Finger und malte damit kleine
Anführungszeichen in die Luft. Grey fand, dass Wilder die meiste Zeit einen
Haufen Scheiße redete. Wahrscheinlich

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