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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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erzählte er jedem den gleichen Stuss.
Aber Grey musste zugeben, dass etwas dran gewesen war an Wilders Zeug über das
»schlechte Ich«. Der schlechte Grey war ja durchaus real, und eine Zeitlang -
genauer gesagt, fast sein ganzes Leben lang - war der schlechte Grey der
einzige Grey gewesen, den es gab. Und das war das Beste an den Medikamenten und
der Grund, weshalb er vorhatte, sie den Rest seines Lebens zu nehmen, selbst
wenn die vom Gericht festgesetzten zehn Jahre vorbei wären: Der schlechte Grey
war jemand, dem er nie wieder begegnen wollte.
    Grey stapfte durch den Schnee zu den Baracken
und aß einen Teller Burritos, bevor er in sein Zimmer ging. Dienstags war Bingo
Night, aber Grey konnte sich dafür nicht besonders begeistern; er hatte zweimal
gespielt und mindestens zwanzig Dollar verloren, und die Soldaten gewannen
immer, was ihn vermuten ließ, dass das Spiel gezinkt war. Es war sowieso ein
blödes Spiel und eigentlich nur ein Vorwand zum Rauchen, und das konnte er
gratis in seinem Zimmer. Er legte sich auf sein Bett, zwei Kopfkissen unter dem
Kopf, einen Aschenbecher auf dem Bauch, und schaltete den Fernseher ein. Viele
Sender waren gesperrt; es gab kein CNN, kein MSNBC, kein GOVTV, kein MTV -
nicht, dass er sich diese Sender noch angesehen hätte -, und wenn die Werbung
kam, wurde der Bildschirm für eine oder zwei Minuten blau, bis das Programm
weiterging. Er zappte durch die Kanäle, bis er etwas Interessantes gefunden
hatte: eine Sendung auf War Network über die Invasion der Alliierten in
Frankreich. Für Geschichte hatte Grey immer etwas übriggehabt, und damals in
der Schule war er sogar ziemlich gut darin gewesen. Er hatte ein Talent für
Namen und Daten, und wenn man die im Kopf auf der Reihe hatte, bestand der Rest
anscheinend nur noch im Ausfüllen der Leerstellen. Grey lag ausgestreckt auf
dem Bett, immer noch im Overall, rauchte und schaute zu. Auf dem Bildschirm
purzelten ganze Bootsladungen von GIs an die Strände, schossen wild um sich,
gingen vor der Artillerie in Deckung und schleuderten ihre Handgranaten.
Hinter ihnen, draußen auf dem Meer, überschütteten schwere Geschütze die
Klippenküste des von den Nazis besetzten Frankreich mit Blitz und Donner. Das
war noch ein Krieg, dachte Grey. Das Filmmaterial war verwackelt und die halbe
Zeit unscharf, aber in einer Einstellung sah Grey ganz deutlich einen Arm -
einen Nazi-Arm -, der sich aus der Schießscharte eines Bunkers reckte, den ein
netter amerikanischer Junge soeben mit dem Flammenwerfer attackiert hatte. Der
Arm war verbrannt und qualmte wie ein Hühnerflügel, den man auf dem Grill
vergessen hatte. Greys alter Herr hatte zwei Vietnam-Einsätze als Sanitäter
hinter sich gebracht, und Grey fragte sich, was er wohl zu so etwas gesagt
hätte. Dass sein Vater Sanitäter gewesen war, merkte man nicht; der Alte hatte
ihm nie auch nur ein Pflaster auf das Knie geklebt, nicht ein einziges Mal. Er
rauchte eine letzte Parliament und schaltete den Fernseher aus.
    Vor zwei Tagen waren Jack und Sam verschwunden,
ohne zu irgendjemandem ein Wort zu sagen, und Grey hatte sich einverstanden
erklärt, Doppelschichten zu arbeiten. Das hieß, morgen früh um sechs musste er
wieder auf Ebene vier sein. Bedauerlich, dass die beiden Jungs einfach so
abgehauen waren. Wenn man nicht das volle Jahr arbeitete, sah man gar kein Geld.
Richards hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Geschichte ihm kein
bisschen Freude machte, und falls sonst noch jemand daran denken sollte, sich
zu verdrücken, sollte er es sich lieber lange und gründlich überlegen - sehr lange und gründlich, fügte er hinzu und ließ dabei den
Blick langsam durch den Raum wandern wie ein stinksaurer Sportlehrer. Er hatte
seine kleine Rede beim Frühstück im Speiseraum gehalten, und Grey hatte die
ganze Zeit stur auf sein Rührei gestarrt. Was aus Sam und Jack geworden war,
ging ihn nichts an, dachte er sich, und er war ja mit den beiden nicht gerade
befreundet gewesen. Sie hatten ein bisschen gequatscht, über dies und das, aber
nur so zum Zeitvertreib, und dass sie weg waren, bedeutete mehr Geld für Grey.
Eine Zusatzschicht brachte fünfhundert extra, und wenn man in einer Woche drei
davon übernahm, zahlten sie einem noch einen Bonus von hundert Dollar dazu.
Solange der Rubel rollte und sein Konto sich mit Nullen füllte, aufgereiht wie
Eier in einem Karton, würde Grey hier auf dem Berg hockenbleiben, bis Ostern
und Pfingsten auf einen Tag fielen.
    Er schälte seinen

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