Cruzifixus
Epiphanien der Erinnerung, nicht an die Oberfläche des Bewusstseins gelangen zu lassen. So sehr er es auch versuchte, wurde er doch das beängstigende Gefühl nicht los, dass diese Mission unter einem Unstern stand, dass sich die Schlinge des Schicksals um ihren Hals zusammenzog. Der Luftraumspäher ließ den Feldstecher sinken:
„Sinnlos, Herr Standartenführer! Wir müssten Radar haben, um zu sehen was hinter den verflixten Bergen los ist.“
Er nickte wortlos. Bachmann hatte Recht. Sie mussten weiter. Hinaus in eine deckungslose Felswüste. Altenbrunner blickte zu den tief verschneiten Bergen hinauf, betrachtete die urweltlichen Umrisse des Untersbergs.
Eine gigantische, von Zinnen und Zacken gekrönte Felsmauer, die sich aus ihrer winterweiß, gefältelten Halskrause schälte. Der Anblick der Bergriesen raubte ihm jedes Mal aufs Neue dem Atem. Wenn es so etwas wie ein höheres Wesen gab, dann offenbarte es sich in der Erhabenheit, der fernen Majestät jener kühnen, kahlen Felsgipfel. Ein Meisterwerk, wie es nur auf dem Reißbrett des kosmischen Architekten Gestalt annehmen konnte. Von dem in Stein gegossenen Gebirgsblock ging ein geheimnisvoller Zauber aus. Was schlummerte unter der Kruste von Fels und Eis? Ein Basilisk, eine monströse Kreatur, eine endzeitliche Echse, deren schuppiger Eispanzer in der Mittagssonne schillerte? Welch labyrinthische Ströme, welch kryptische Kräfte flossen in jenem mythischen Berg?
Erinnerungen überschwemmten ihn, Erinnerungen an die Geister- und Spukgeschichten, die nordischen Sagen und Märchen, die er als Halbwüchsiger verschlungen hatte, in denen es vor Zwergen und Zauberern, von Helden und Hexen, von Trollen und Tiermenschen wimmelte: Die versteinerten Märchenschlösser des Untersberg spielten in den Mythen und Sagen eine Schlüsselrolle. In den unterirdischen Kavernen und Kasematten lagerte das schwarze Geisterheer des Kaisers Lobesam. Der war zwar in einem tiefen, totengleichen Schlaf versunken, würde aber beim Klang der letzten Posaune sein Haupt erheben, um mit seine grauen Mannen in die Schlacht zu ziehen, um den Endsieg über die Streitschar des Bösen zu erringen.
Fröstelnd zog Altenbrunner seine Uniformjacke enger um seinen von den Entbehrungen und Strapazen eines Landsknechtslebens ausgemergelten Körper. Er wärmte seine klammen Hände im Futteral der mausgrauen Uniformjacke. Wieder und wieder blickte er zum Himmel. Der Tag des jüngsten Gerichts war nahe und von Kaiser Lobesam und seinen unbesiegbaren Geisterheer war nichts zu sehen. An Mären, Märchen und wunderbare Errettungen glaubte er jedenfalls längst nicht mehr. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Und das Ende war unvermeidlich. Mochten seine Befehle auch von ganz oben kommen. Wenn ein Spähtrupp der Amis auftauchte, würde er ohne mit der Wimper zu zucken die weiße Fahne schwenken. Rottenbucher hatte den Männern auf den Zahn gefühlt, hatte die hirnlosen Runengläubigen, die verbohrten Nazi-Spinner unter ihnen aussortiert. Wenn sie die Waffen streckten, durfte es zu keinen Komplikationen kommen.
Der Befehl aus dem Führerbunker war ganz überraschend per Fernschreiben aus Berlin gekommen. Kurz nach Mitternacht hatte er den Kommandotrupp in Reih und Glied vor dem Kasernenkomplex am Platterhof antreten lassen. Dann war er an der Spitze der Marschkolonne die paar hundert Meter hinüber zum Eingang des Berghof-Bunkers marschiert. Mit einem schnodderigen „Heil Hitler“ hatte er den Posten den vom Führer manu propria unterzeichneten Befehl unter die vorwitzige Nase gehalten. Die Wachmannschaft hatte pflichteifrig salutiert, laut vernehmlich „Zu Befehl!“ gebrüllt und eilends die schweren Stahlflügel des äußeren Tors geöffnet. Die Metallkappen der Knobelbecher klackten auf dem harten Betonboden, hallten von den feuchten Wänden der in kaltes, künstliches Neonlicht getauchten unterirdischen Gänge. Der Führerbefehl, die Order der Kommandantur waren eindeutig.
Dennoch erschien ihm der Befehl widersinnig, einem krankhaft, paranoiden Hirn entsprungen! Erst im Sommer des vorigen Jahres hatte das Privatsekretariat des Führers die Direktive erlassen, die aus Werken seiner Lieblingsmaler Böcklin und Makart bestehende Gemäldesammlung, die mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek sowie das die geheime Korrespondenz des Führers enthaltende Privatarchiv in eigens
Weitere Kostenlose Bücher